„Von Integration oder Assimilation kann keine Rede sein“

Alexej Malaschenko, Islam- und Kaukasusexperte. Copyright : Russia.ru

Alexej Malaschenko, Islam- und Kaukasusexperte. Copyright : Russia.ru

Alexej Malaschenko, Islam- und Kaukasusexperte, spricht über die Probleme bei der Integration russischer Muslime.

 RH: Lässt sich die Integration der Muslime in Deutschland und Russland vergleichen?

Alexej Malaschenko: Es ist schwer, da Parallelen zu ziehen. Den Islam in Deutschland haben die Gastarbeiter im 20. Jahrhundert mitgebracht. Er ist Phänomen einer fremden Kultur. Russland dagegen war immer multikonfessionell. Der Islam ist hier seit dem 16. Jahrhundert heimisch.

RH: Wie stark sind die russischen Muslime integriert?

Alexej Malaschenko: Die eine islamisch geprägte Region ist Tatarstan und Baschkirien. Die dortigen Muslime sind vollständig assimiliert: Sie unterscheiden sich kaum von der russisch-orthodoxen Bevölkerung, haben den gleichen Zugang zu Bildung und gleiche Karrierechancen. Sie haben dabei ihre Kultur, Tradition und Sprache bewahrt und somit die russische Kultur bereichert. Ein zweites islamisches Zentrum befindet sich im Kaukasus. Dort leben Muslime geballt in einem monokonfessionellen Territorium. Von Integration oder Assimilation kann hier keine Rede sein.

RH: Warum nicht?

Alexej Malaschenko: In Tschetschenien und Inguschetien ist die Bevölkerung zu hundert Prozent muslimisch. In Dagestan beträgt der muslimische Anteil 95 Prozent. In ganz Tschetschenien gibt es nur eine einzige orthodoxe Kirche, die eher symbolisch errichtet wurde. Der dort praktizierte Islam hat eine radikalere Ausrichtung - insbesondere bei der Jugend - und orientiert sich am Nahen Osten, zum Beispiel an der Region um den Persischen Golf.

RH: Womit hängt dieses Interesse zusammen?

 

Alexej Malaschenko: Mit dem niedrigen Lebensstandard in den Kaukasus-Republiken. Deswegen haben wir auch eine hohe Migrationsrate, und zwar sowohl im russischen Inland als auch bei der Zuwanderung aus dem Ausland. In die slawisch bevölkerten Gebiete kommen Muslime aus dem Kaukasus und aus muslimischen Nachbarländern wie Aserbaidschan.

RH: Wie viele Muslime leben in Russland?

 

Alexej Malaschenko: Aufgrund der Migration ist es schwierig, die Zahl genau festzulegen: Sie liegt zwischen 16 und 20 Millionen Muslimen , 14 Millionen davon haben die russische Staatsbürgerschaft.

 

RH: Wie ist das Echo in der Bevölkerung?

Alexej Malaschenko: Die eigentlich tolerante Bevölkerung unseres multikonfessionellen Vielvölkerstaates ist unzufrieden mit dem Verhalten der als „dreist“ empfundenen Kaukasier. In der Folge wächst der Nationalismus.

RH: Bringt die Migration soziale Probleme mit sich?

Alexej Malaschenko: Migration führt nicht unmittelbar zu sozialen Spannungen: Die Einwanderer aus den GUS-Ländern arbeiten vor allem im Billiglohnsektor. Aber nach ihrer Imigration pflegen sie weiterhin ihre althergebrachten Traditionen und folgen gesellschaftliche Normen, die mit den russischen nur schwer vereinbar sind . Aus dem Nordkaukasus, den manche Politiker als „inneres Ausland“ bezeichnen, kommen junge Leute, die auf traditionelle kaukasische Art erzogen sind und Vorstellungen haben, die für eine städtische Bevölkerung befremdlich sind, etwa ihre Vorstellung über Frauen.

RH: Birgt das nicht ein gewisses Aggressionspotenzial?

Alexej Malaschenko: Diese Potenziale sind durchaus vorhanden. Wir beobachten im Nordkaukasus eine zweite Welle der Islamisierung, ja eine „Schariatisierung“. Unter den Sowjets waren die muslimischen Völker zu „kleinen Brüdern“ Russlands degradiert. Nach dem Zerfall der UdSSR begannen die kaukasischen Muslime, sich mit den weltweit eineinhalb Milliarden Anhängern der islamischen Gemeinschaft zu identifizieren. Sie haben keine Minderwertigkeitskomplexe mehr und sehen sich als Teil des Weltgeschehens, auch bezüglich einer Konfrontation zwischen dem Islam und dem Westen. Zum Motto vieler radikaler Muslime ist die Überzeugung geworden, dass der Islam unbesiegbar ist. Russland erlebte in den letzten 20 Jahren zwei blutige Tschetschenien-Kriege, in denen die Muslime mit radikalen Dschihad-Parolen aufwarteten. Darin gleichen die kaukasischen Muslime allerdings Teilen der europäischen islamischen Diasporas.

Alexej Malaschenko ist Mitglied des wissenschaftlichen Rates des Moskauer Carnegie-Zentrums und ein führender Nordkaukasus-Experte.

 Das Gespräch führte Alexej Knelz.

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