Zwei Leben nach dem Tod

Die Kinder von Anna Polikovskaya.Copyright: Swetlana Priwalowa, Kommersant.

Die Kinder von Anna Polikovskaya.Copyright: Swetlana Priwalowa, Kommersant.

Am 19. Februar sprach ein Moskauer Gericht die Angeklagten im Prozess Politkowskaja frei. Am 26. Juni kassierte das Oberste Gericht das Urteil und ordnete an, das Verfahren neu aufzurollen. Vor wenigen Wochen forderte Alexander Bastrykin, der Leiter der Ermittlungsbehörde, eine Überprüfung von Übergriffen an Journalisten zwischen 2001 bis 2005 an. Die Ergebnisse gab er Mitgliedern des Committee to Protect Journalists bekannt: Die Ermittlungen seien in einigen Fällen „nicht vollständig“ oder „mit Versäumnissen“ durchgeführt worden. Anna Politkowskaja wollte aufhören mit ihren riskanten Ermittlungen, ihrer Familie zuliebe. Gerade war ihre schwangere Tochter bei ihr eingezogen. Doch am 7. Oktober 2006 wartete im Treppenhaus der Mörder.

Fünf Monate war der Mord an ihrer Mutter her, da brachte Wera Politkowskaja ein kleines Mädchen zur Welt. Anna heißt es, zu Ehren seiner Großmutter. Wera ist heute Anfang dreißig, ihre Tochter wird bald vier. Ihre Großmutter wäre in diesem Jahr 52 geworden. „Bevor Anna auf die Welt kam, haben wir extra noch die Wohnung renoviert“, erinnert sich Wera. Erst eine Woche vor dem Mord war sie zu ihrer Mutter gezogen. Ihrer Familie zuliebe wollte die Journalistin einen Strich ziehen. Unter ihre Karriere als Kriegsreporterin im Kaukasus, als Ermittlerin zu den Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und der Geiselnahme in einem Moskauer Theater 2002. Mehrfach hatte sie Morddrohungen erhalten, und auch eine Scheinhinrichtung musste sie über sich ergehen lassen.

Stand der Ermittlungen

Nach dem Mord vermuteten ihre Freunde und Kollegen, dass die Ermittlungen dem in Russland üblichen Muster folgen würden: Keine Untersuchung, kein Verfahren, keine Aufklärung. Bislang trifft das weitgehend zu: Zwar gab es einen Prozess, aber die drei Angeklagten wurden freigesprochen. Die beiden Kinder der Journalistin sind ihren eigenen Weg gegangen. Aber sie tragen eine Last: Ihre Mutter ist ein Symbol dafür, wie stark russische Journalisten unter Beschuss stehen, in einem Land, das ihnen keine Sicherheit bietet. Mindestens 22 Journalisten wurden seit 2000 nachweislich wegen ihrer Berichterstattung ermordet, Dutzende Fälle warten auf Aufklärung. Immerhin hat sich das Land im aktuellen Ranking von „Reporter ohne Grenzen“ vom 153. Platz auf Position 140 hochgearbeitet.

Anna Politkowskaja war bis zuletzt in Tschetschenien geblieben. Zusammen mit ihrer Kollegin Natalja Estemirowa, die im Jahr 2009 ebenfalls ermordet wurde, berichtete sie von den Menschenrechtsverletzungen unter Präsident Ramsan Kadyrow. „Wir ha-ben keine Hinweise darauf, dass Kadyrow für die Ermordung unserer Mutter verantwortlich ist“, sagt Ilja heute. „Die offiziellen Ermittlungen konzentrieren sich auf die eigentlichen Täter, nicht auf die Hintermänner. Es werden wohl viele Monate oder sogar Jahre vergehen, bis die Wahrheit ans Licht kommt“.

Ilja und Wera: Die Kinder Annas gehen eigene Wege

Wera wohnt nach wie vor im Haus Nummer 8 der Lesnaja-Straße im Zentrum Moskaus, in dessen Treppenhaus ihre Mutter ermordet wurde. Ebenso wie ihre Mutter und ihr Vater ist Wera Journalistin geworden, derzeit bei einer Nachrichtenagentur. Nach ih rem Abschluss am Moskauer Konservatorium wollte sie zunächst Musikerin werden. Aber der Journalismus lag ihr im Blut. Ilja, ein 29-Jähriger , arbeitet für eine große PR-Agentur. „Politik? Ist nichts für mich. Und das gleiche gilt für Journalismus. Ich will nicht mein ganzes Leben im Schatten meiner Eltern stehen”, sagt er. Auch Wera bleibt der Politik fern, aber aus anderen Gründen: Sie hält den gesamten Politbetrieb für korrupt.

Anna Politkowskaja hatte immer wieder betont, schon zum Wohle ihrer Enkelkinder könne sie es sich gar nicht leisten, Optimistin zu sein. Ihre Berichterstattung war jedoch weniger pessimistisch als vielmehr unerschrocken und ohne Scheuklappen.

Das haben ihre Kinder geerbt. Dem demokratischen Prozess in ihrem Land stehen sie kritisch gegenüber. „Ich bin da recht pessimistisch“, gibt Wera zu. „Noch immer können wir nicht frei unsere Meinung äußern. Instinktiv betreiben die großen Fernsehsender Selbstzensur. Ich denke, politische Freiheiten können wir nur dann erwirken, wenn wir gemeinsam auf die Straße gehen.“ Ihr Bruder Ilja beteiligte sich an den politischen Aktionen zur Rettung des Waldes in Chimki. Aber er weiß auch, warum er in den Medien Gehör findet: „Meinen Einfluss schulde ich meiner Mutter“.


Interview mit Ilya Poltikovskij (november 2008)

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