Tolstoi: Ausstellungen und Radio zum 100. Todestag

Copyright: Prokudin-Gorskij

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Lew Tolstoi - er war nicht nur Schriftsteller, sondern eine moralische Instanz, ein Weltgewissen. Zwei umfangreiche Ausstellungen im deutschen Sprachraum sind seinem 100. Todestag gewidmet.

 Als Leo Tolstoj (wie er manchmal in Deutschland geschrieben wird) am 20. November 1910 auf der kleinen Bahnstation Astapowo starb, vermeldete die Weltpresse nicht nur den Tod eines der prominentesten Schriftsteller seiner Zeit. Man sprach gar vom Ende einer Epoche. Unbestritten war Tolstoi einer der größten philosophischen Denker, die das 19.Jahrhundert hervorgebracht hat.

Dank seiner literarischen Begabung war es ihm möglich, seine Ideen und Gedankenmodelle nach außen zu tragen. Was er auch anfing, machte Tolstoi exzessiv und gründlich. Zwei Ausstellungen in Zürich und München versuchen nun anlässlich seines 100. Todestags das Leben und Wirken dieses Reformers transparent zu veranschaulichen.

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Zürich: „Tolstoi 1828 – 1910“

Unter diesem schlichten Titel zeigt die Ausstellung in Zürich einen Querschnitt durch Tolstois Leben. In sieben verschiedenen Schwerpunkten wird dem Besucher ein Bild des Genies vermittelt, dessen jeweilige Phasen kontinuierlich in seinen Werken widergespiegelt werden. Eine Reise von den ersten Erfahrungen seiner Jugend bis hin zu seinem medialen Tod als gereiften Philosophen. Dokumentiert in Fotografien, Zeichnungen, sowie Film- und Tonaufnahmen.

           

Adeliger als die Romanows

Als Spross des uralten russischen Adelsgeschlecht der Tolstois 1828 in Jasnaja Poljana zur Welt gekommen, wurde Lew Tolstoi schon mit neun Jahren zum Vollwaisen. Seine Jugend machte sich der Eigenbrötler und Selbstzweifler selbst nicht leicht. Ehrgeizige Pläne, abgebrochenes Studium – er zieht in den Kaukasuskrieg. Seine Erfahrungen die der junge Tolstoi in Form von Tagebuchaufzeichnungen niederschreibt, sollen in späteren Werken Verwendung finden.

Pädagogische Reformen und die Epen

Inzwischen Besitzer von Jasnaja Poljana, abwechselnd auf dem Landgut, in Moskau und St. Petersburg lebend, beginnt für Tolstoi die Zeit seiner ganz großen Romane. Er beschäftigt sich zudem mit reformpädagogischer Bildung. „Ich will Bildung für das Volk…“, nach diesem Credo errichtet Tolstoi Dorfschulen und bereist Europa. Und mit dieser Gesellschaftskritik beladen macht er sich an seine Epen „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“. Es sollen Tolstois berühmteste Romane werden. Sprach’s und ehelichte 1862 die deutschstämmige Sofja Behrs. Aus dieser Ehe gingen 13 Kinder hervor. Tolstoi widmet sich verstärkt seiner Familie und erfährt eine Neuorientierung. Er zweifelt mittlerweile an der Kirche und wird exkommuniziert. Seine Frau hingegen gibt der „Schriftstellergattin“ ein neues Gesicht: Sie fotografiert und zeichnet, verbreitet so das Bild Lew Tolstois in der Öffentlichkeit. Der Schriftsteller avanciert zum Weltstar. Jedoch blieben auch die Eheprobleme der Tolstois kein Geheimnis mehr.

 

Sehnsucht nach der „Schönen Kunst“

„Dieser wunderliche Heilige nahm es mit der Kunst desto genauer, je weniger er an sie glaubte“. Diese Worte Thomas Manns umschreiben exakt die Sinnkrise, die den späten Tolstoi plagte. Er wollte Literat sein, hatte jedoch stets ein kritisches Verhältnis zu den schönen Künsten. Sein Anspruch an persönlicher Selbstvervollkommnung hatte sich gänzlich verselbstständig. Heimlich trat Tolstoi die ziellose Flucht aus Jasnaja Poljana an. Zwei Wochen später erlag er an der Bahnstation Astapowo den Folgen einer Lungenentzündung. Eine Ausstellung in München hingegen konzentriert sich auf ein ganz anderes Motiv von Tolstois Leben. Die ziemlich unbeobachtet gebliebene Beziehung des Literaten zu Deutschland. Sie beginnt mit dem deutschen Hauslehrer, Tolstoi heiratet die deutschstämmige Sofja, entdeckt seine Liebe zur deutschen Musik, Philosophie, Literatur und Pädagogik. Zwei Reisen nach Deutschland, reger Briefwechsel mit deutschen Lesern und nicht genug mit der ungeheuren Verehrung, die er unter deutschen Schriftstellern genoss.

 

Birken – immer wieder Birken

Die Original-Filmaufnahmen, die in einer Endlosschleife an die Wände projiziert werden, schaffen eine stimmige Atmosphäre und schlagen eine Brücke zum Landgut Jasnaja Poljana, wo sich der Graf im Bauernkittel nur allzu gern aufhielt. Tolstoi, den Weg entlang schlendernd, Tolstoi auf dem Pferd vor seinem Anwesen - natürlich mit Birken. Zittrige, verblasste Aufnahmen die fortwährend in einem Heuschober gezeigt werden. Dazwischen Pulte, Briefe, Fotos und Tagebuch-Auszüge.

 

Von der Idylle zum richtigen Leben

Sein deutscher Schriftsteller-Kollege Thomas Mann meinte einst: „Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, ob er es gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre Vierzehn die scharfen Augen des Alten von Jasjana Poljana noch offen gewesen wären.“ Jedoch bleibt auch bei der Lebensschau des Lew Tolstoi in München nicht die Offenbarung aus, dass er von Selbstzweifeln zerfressen war, seiner Frau dafür die Schuld gab und sein Leben umso rastlosere Züge annahm je populärer er wurde.

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen bei Russland-Aktuell.

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