Wie wir die Strahlung fürchten lernten

Nach der Explosion im Reaktorblock 4 werden über 300 000 
Menschen aus der 30-Kilometer-Zone um das AKW umgesiedelt. 
Eine halbe Million Aufräumarbeiter nehmen ihren Platz ein. Foto: AFP/East News

Nach der Explosion im Reaktorblock 4 werden über 300 000 
Menschen aus der 30-Kilometer-Zone um das AKW umgesiedelt. 
Eine halbe Million Aufräumarbeiter nehmen ihren Platz ein. Foto: AFP/East News

Nach Tschernobyl steckte Russland Milliarden in die Atomsicherheit. Heute exportiert das Land Atomkraftwerke. Auch nach Fukushima glaubt man in Russland an die Atomenergie.

Den ersten Mai feierte man in der Sowjetunion mit prunkvollen 
Paraden, begleitet von stolzen Meldungen über wirtschaftliche Erfolge. 1986 wollen die Betreiber mit einem Test an einem neuen Spannungsregler im AKW Tschernobyl an diese Tradition anknüpfen, pünktlich zum Tag der 
Arbeit. Aus dem Test wird ein 
Super-GAU, tagelang verheimlicht die Staatsführung, was passiert war. Dann schickt sie Hunderttausende Aufräumarbeiter in die verstrahlte Sperrzone.

 

Monatelang dekontaminieren diese das Gebiet und bauen einen Stahlbeton-Sarkophag um den havarierten Block 4. Journalisten drehen Filme über das 
Desaster und präsentieren der Öffentlichkeit schockierende 
Bilder der verstrahlten Opfer.

Friedliches Atom

Die Stimmung in der Gesellschaft kippt: Einst stolz auf die Kernforschung – von der offiziellen Devise „Friedliches Atom in jeden Haushalt“ angespornt, werden die Sowjets nun mit den möglichen Folgen konfrontiert. Die vormals angesehene Branche gerät ins Wanken. „Es gab nur wenige, die sich dieser Gefahr aussetzen wollten. Deshalb herrscht heute in der russischen Atomindustrie akuter Fachkräftemangel“, sagt Wladimir Sliwjak, Gründer der russischen Umweltorganisation Ecodefense.

Aber das Land zieht seine Lehren aus Tschernobyl. Die Sicherheitsbestimmungen werden 
drastisch verschärft, alle Reaktoren modernisiert und von der Internationalen Atomenergiebehörde erneut abgenommen. „Um den menschlichen Faktor als Fehlerquelle auszuschließen, führten wir intelligente Systeme für passive Sicherheit ein“, sagt Igor Konyschew vom Nuklearausrüster Rosatom.

Bei Rosatom ist man sich der 
modernisierten Kraftwerke so 
sicher, dass das Atomprogramm weiter ausgebaut wird, und zwar von Europa über die Türkei bis nach China: „Heute hält die Russische Föderation am Weltmarkt für AKW einen Anteil von 20 Prozent.“

Das lukrative Geschäft mit der Kernenergie

 

Damit schwimmt das Land international gegen den politischen Strom, allerdings mit einer eigenen Logik: „Erdöl und Erdgas werden immer teurer und sind 
irgendwann aufgebraucht. Russland will aber seine Marktanteile als wichtiger Energielieferant nicht verlieren“, erklärt Sliwjak, „und vielmehr Marktführer auf dem Energiesektor werden.“

Lukrativ ist das Geschäft mit der Kernkraft allemal: Rund 3,5 Milliarden Euro kostet ein Meiler, hinzu kommen Erträge aus Wartung und Modernisierung. Allein in Russland will Rosatom bis 2020 32 neue Reaktorblöcke bauen 
– zusätzlich zu den heutigen 33.

Quelle: Rosenergoatom

Dabei setzt die Atomagentur auf moderne Reaktoren mit schnellen Neutronen: Die Technologie sei effizienter und umweltfreundlicher als die der konventionellen Reaktoren, da der verbrauchte 
radioaktive Treibstoff in den
 Zyklus zurückfließe und der Atommüll minimiert werde, warb Präsident Dmitri Medwedjew. „Wir sollten nicht die alten Reaktoren modernisieren, wir sollten moderne bauen“, so der Präsident.

Sicherer als Fukushima?

Ob dadurch die Atomenergie wirklich sicherer wird, bezweifeln hochrangige Experten. Zwar seien bei den russischen Kraftwerken Szenarien wie in Tschernobyl oder Fukushima schwer 
vorstellbar, glaubt Juri Wischnewski, früher Leiter der russischen Atomaufsichtsbehörde: Sie seien erdbebensicher bis Stärke 9, bei theoretisch möglichen 5. Und doch: „Kernkraftwerke sind technologisch komplizierte und gefährliche Objekte, es kann immer etwas passieren“, räumt er ein.

Wischnewski sorgt sich um die 
Sicherheitskontrolle: „Es gibt heute kein Gremium mehr, das die Atomaufsicht konsequent umsetzen würde“, sagt er. Seine Behörde wurde schon 2005 in Rosatom eingegliedert.

Sliwjak, der russischen Atomindustrie längst ein Dorn im Auge, bringt es auf den Punkt: „Rosatom macht, was es will. Außer den 
Umweltorganisationen gibt es niemanden, der ihnen auf die Finger schaut.“ Die Fronten zwischen den Lagern sind verhärtet. „Was die Ökos auch erzählen, im Regelfall sind es Lügen“, kontert Konyschew. Neben internen Gremien gebe es Rostechnadsor, den 
„Föderalen Dienst für Technische Aufsicht in der Industrie“, kurz den Atom-TÜV.

An eine Kontrollsicherheit durch Rostechnadsor kann Sliwjak nicht glauben. „Von 33 Reaktoren sind elf mittlerweile veraltet und müssten vom Netz“, sagt er. Im Jahr 2000 sei es in der Region Swerdlowsk zu einem rapiden Spannungsabfall der Elektrizität gekommen. Die Reaktoren des AKWs Majak waren 45 Minuten lang ohne Strom. „Ich sprach mit dem Mann, der damals im Kontrollraum saß. Wären es fünf Minuten mehr gewesen, hätten wir einen weiteren Super-GAU .“

Die russische Gesellschaft ist sich der Gefahren bewusst, wenn sie auch öffentlich nicht dagegen protestiert: 2007 ließ Ecodefense eine russlandweite Meinungsumfrage durchführen. 70 Prozent der Befragten äußerten sich gegen die Atomkraft und für erneuerbare Energien.

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