Inschriften im Reichstag.

Man traut seinen Augen kaum, läuft man durchs Reichstaggebäude in Berlin. Kommt man an der Cafeteria vorbei, erblickt man an den Wänden seltsames Gekritzel wie von Kindern. Doch es waren keine Kinder, die an den Reichstagswänden malten. Es waren Soldaten der Roten Armee, die am 8. Mai 1945 Berlin eingenommen und den Hitlerfaschismus besiegt hatten. Die Schriftzüge sind ihr Lebenszeichen, ihre Botschaften an die Nachwelt, Graffitis der Vergangenheit.

Karin Felix ist eine sehr lebhafte, sympathische Frau. Sie führt schon seit vielen Jahren interessierte Besucher durch den Reichstag. Und ist die größte Spezialistin für Inschriften der sowjetischen Soldaten im großen Haus. Sie kennt offenbar jede einzelne von ihnen und bei manchen nicht nur den Schriftzug, sondern sogar seinen Autor. Es mutet unglaublich an, denn erst seit 1991 hat man die vielen Schriftzeichen wiederentdeckt. Jahrzehntelang fristeten sie ihr Dasein gut versteckt hinter einer Gipswand, als ob sie darauf warteten, irgendwann einmal die Welt an die Schrecken der Vergangenheit zu erinnern.

Als man den Reichstag renovierte und dabei die weiße Gipswand entfernte, kam die „alte“, die echte Wand und mit ihr die "Tags" der Sowjetsoldaten wieder zum Vorschein. Man ließ die mit Autogrammen übersäten Wände aufwändig restaurieren, denn glücklicherweise erkannten die Verantwortlichen letztendlich ihren Wert. „An einem so freudigen Tag, wie dem Tag des Sieges, wollten alle ihre Hochstimmung festhalten. Man verewigte sich mit seiner Unterschrift an den Wänden des Reichstages, eines symbolträchtigen Gebäudes des am Boden liegenden Aggressors mit allem, was man eben in die Finger bekam. Meistens war es Kohle, manchmal auch Bleistift“, verweist Frau Felix auf die Relikte.

Sie beschäftigt sich mit deren Geschichte, seit sie wiederentdeckt wurden. Sie berichtet, dass es anfangs gar nicht so klar war, ob man sie tatsächlich erhalten würde, der Bundestag musste sogar eigens darüber abstimmen. „Aber zum Glück war es doch die Mehrheit, die zustimmte," lacht sie. Auch hohen Staatsbesuch empfängt Frau Felix des Öfteren. Gorbatschew hat sie schon die Inschriften gezeigt, wie das Foto von ihr und Gorbi an der Bürowand stolz verkündet.

 

„Papi“

 

 

Inschriften auf dem Reichstag.

Die Inschriften

Es waren nicht nur die Innenwände des Reichstages, die beschrieben wurden, es sollen natürlich auch die Außenwände gewesen sein, doch von diesen Autogrammen hat die Zeit nichts mehr übrig gelassen. Es sind bewegende Schriftzüge, die auch Karin Felix, die sie zur Genüge kennen sollte, jedes Mal wieder zu Tränen rühren. So steht da etwa: „Mein größter Traum ist in Erfüllung gegangen, bald kann ich nach Hause“. Oder: „Aus dem Kessel bis nach Berlin, 8. Mai 1945“ und die Unterschrift. Der Kessel – das ist Stalingrad. Wenn man nicht einfach nur Buchstaben in diesen Worten sieht, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, die es lebend aus der Hölle bis nach Berlin schafften, in einem verbitterten, schwere Opfer fordernden Krieg mit ungewissem Ende, dann berührt das einen tief. „Es waren doch alles junge Kerle, noch Kinder zum Großteil, die bis hierher kamen“, fährt Karin Felix mit ihrer Führung fort.

Karin Felix kann inzwischen so gut Russisch, dass sie auch die unzähligen Schimpfwörter versteht, mit denen die Wände ebenfalls reich geschmückt sind. So etwas wie „Gitler w schopu“ („Hitler im Arsch“) ist da das harmloseste. „Man kann es ihnen nicht verübeln, wenn die Burschen ihre Lebensfreude auch in härtere Ausdrücke verpackten," schmunzelt sie. „Aber hier, das ist meine Lieblingsinschrift“ –zeigt sie plötzlich auf ein kleines Herz an einer Wand in der untersten Ecke: „Anatolij plus Galina“ steht da. Liebe im Krieg - Liebe im schwer erkämpften Frieden. "Richtig zu leben beginnen die Autografen aber erst dann", strahlt Karin Felix, "wenn sie ihre Beziehung zum Autor offenbaren."  

Einer, der seine einstige Unterschrift am Reichstag wiedergefunden hat, ist der Kriegsveteran Professor Pavel Solotarejow, den Karin Felix inzwischen liebevoll „Papi“ nennt. Er ist aus St. Petersburg und weit über 80. Gemeinsam mit einem russischen Fernsehteam, das sich auch für die Inschriften interessierte, besuchte er vor Jahren Berlin. Das Schicksal wollte es, dass Karin Felix ihn zu dieser Wand brachte.  „Man kann es nicht in Worte fassen," berichtet sie, "wie dieser Mann sich nach 65 Jahren in diese Tage zurückversetzt fühlte." .

Auch eine Reisegruppe von Veteranen-Frauen aus dem ehemaligen Stalingrad besichtigte die Inschriften. Nach der Tour kam eine ältere Frau aus der Gruppe auf Felix zu und erzählte ihr, dass ihr verstorbener Mann behauptet hatte, dass er hier gewesen sei und sich auch verewigt hätte. Bis heute hatte sie ihm nie so recht geglaubt, aber als sie die vielen Schriften gesehen hätte, wären ihr Zweifel und gleichzeitig Hoffnung gekommen. Ob Frau Felix vielleicht wisse, ob sie seine Unterschrift irgendwo gesehen hätte und wo sie sein könnte. Und Karin Felix wusste es tatsächlich. Als die betagte Frau vor dem handschriftlichen Zeugnis ihres Ehemannes stand, flossen die Tränen. „Es waren nicht einfach nur Buchstaben für diese Frau, die sie da an der Wand sah, sondern in diesem Moment erstand ihr Geliebter vor ihr auf."

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