Die Falle der Macht

Mit der Verfilmung des „Faust“-Stoffes hat Alexander Sokurow seinen „Ring der Nibelungen“ abgeschlossen.

Goethes Erbe

Nach der abendlichen Pressevorführung von Sokurows „Faust“ in Venedig applaudierte das Publikum im überfüllten Saal frenetisch bis zum allerletzten Abspann.

Dieser gewaltige, visuell betörende und ungemein ambitionierte Film hat mit Goethes gleichnamigem Stück nur mittelbar zu tun. Drehbuchautor Juri Arabow und Regisseur Alexander Sokurow folgen dem deutschen Genius nicht, sondern sehen sich vielmehr in seiner Erbfolge. Am Material der klassischen Goethe’schen Konfliktkonstellation erschaffen sie eine Leinwandmalerei, die den Urstoff kongenial aufnimmt. Das Autorenduo Arabow-Sokurow bedient sich einer anderen Kunstgattung, die freie Ausdeutung der Vorlage ist deshalb so zulässig und unumgänglich wie dies der Fall war, als die Komponisten Arrigo Boito in und Charles Gounod die philosophische Tragödie in die Opernsprache übersetzten.

Der Film ist die universellste der Künste, und Sokurow macht sich ihre Vorzüge meisterhaft zunutze, setzt auf die Magie des Wortes ebenso wie auf die malerische Bildsprache der Kamera, eine fast schon choreografisch anmutende Plastik des Szenenbilds, die bis hin zur flüchtigen Bewegung einer Randfigur geschliffen und präzise justiert ist. Was selbstredend auch für die Filmmusik gilt. Komponist Andrej Sigle hat in der Partitur Instrumentalklänge gleichberechtigt mit Alltagsgeräuschen, Vogelschreien, Hundegebell oder dem Urgrollen der Erdentiefen vermischt und daraus eine fantastische Symphonie des Daseins entstehen lassen. Den Soundtrack dieses Films würde ich zum Pflichtstoff für jede Filmhochschule erklären.


Faust in einer neuen Umgebung


Die handelnden Personen des „Faust“ bewegen sich in einer fiktiven Umgebung des 19. Jahrhunderts, was gleichfalls in der konzeptuellen Absicht der Autoren liegt, wollen sie doch gerade die gewohnten Grundpfeiler des „Faust“-Stoffes ins Wanken bringen. Das Duo Sokurow-Arabow ignoriert die traditionellen Auslegungen der Figuren und eröffnet damit Spielräume für neue Lesarten, Assoziationen und Parallelen. Die radikalste Transformation erfährt die Gestalt Mephistos. Die bekannten „Faust“-Illustrationen des Eugène Delacroix haben in unserer Vorstellung das Bild eines von sich selbst überzeugten, machtliebenden und allmächtigen Gecken verfestigt. Kurzum: Mephistopheles hat ein imposanter Mann zu sein.

Anton Adasinsky als Mephisto. Foto: 68th Venice Film Festival

Sokurow hingegen degradiert diese Figur bis zur Groteske. Sein Mephisto ist alt, aber auch gleichsam alterslos, mit hängenden Schultern, gebeugtem Gang, gekrümmtem Rücken und einem hässlich aufgedunsenen Becken, das schlaffe Fleisch an den verkehrtesten Stellen durchsetzt von knotigen Muskeln. Als er sich im Bade seiner Kleider entledigt, kommt ein atavistisches Schwänzchen zum Vorschein. Sokurows Mephisto stirbt hin und wieder, aber eben nicht ganz, mitunter ist er voller geiler Lüsternheit und schreckt nicht einmal davor zurück, sich mit einem Kuss an der Madonnenfigur einer Kirche festzusaugen. Seine Kiefer gehorchen ihm nicht mehr, schwächliche Beine tragen den unförmigen Torso eines Homunculus.

Ganz anders dagegen präsentiert sich der von Mephisto verführte Faust: Ein Mannsbild voller Saft und Kraft, der keine Verjüngung braucht, um Margarita leichthin den Kopf zu verdrehen. Doch die einzige Befriedigung, die diesem Mann etwas bedeutet, ist die Macht über Menschen und über die Welt. Jene Macht, die nach der Grundidee des Stoffes Mephisto besitzt. Als sich Faust stark genug fühlt, um aus eigener Kraft Macht zu erlangen, wird der Weggefährte überflüssig und in einer Schreckenslandschaft aus Felsschrunden und gischtenden Geysiren lebendig begraben.

Johannes Zeiler als Faust. Foto: 68th Venice Film Festival

Dieser Faust im Anzug des 19. Jahrhunderts dürfte am ehesten wohl der postsowjetischen Zeit entsprungen sein. Er ist die Antithese zu Poesie, Romantik und Humanismus, zu alldem also, was geheimhin zur Sphäre des Geistigen gezählt wird. Ein absoluter Rationalist und Zyniker. Das offenbart bereits die erste Szene des Films, in der Doktor Faustus mit seinem Schüler Wagner einen Toten ausweidet, um festzustellen, in welchem Glied oder Organ die Seele ihren Sitz hat.

Sokurows Faust hasst die Moral und die Moralprediger, er ist ein unverbesserlicher Utilitarist und in diesem Utilitarismus ein frühes Ebenbild der berühmt-berüchtigten Chicago Boys. Wie sie ist er bereit, für seine Idee über Leichen zu gehen.

Klaustrophobie in Bewegung


Eindrucksvoll präsentiert sich dem Zuschauer die „dingliche Welt“ des Filmwerks. Bevölkert von zahlreichen Figuren, ähnelt der Streifen einem Genregemälde Pieter Brueghels. Alles befindet sich in Bewegung, alles lebt sein Leben, alles strömt und strebt von irgendwo nach irgendwo. Eine derartige Dynamik ist ungewöhnlich für Alexander Sokurows Kinematografie, ebenso wie der kurze, chirurgisch präzise Schnitt. Episodisch flüchtig tauchen Bilder auf und verschwinden, nicht ohne eine Spur im Gedächtnis zu hinterlassen. So entsteht in der Gesamtheit die Vision eines beweglich-bewegten, vielsprachig tönenden Lebens, das verschiedenartigste Gerüche verströmt.

Ein Still aus dem Film. Foto: 68th Venice Film Festival

Gerüche fokussieren die Filmemacher denn auch ganz besonders, erstaunlicherweise vermögen sie selbst diese Illusion zu reproduzieren. Doch bei aller Weite, allem Spielraum für Visionen und metaphorische Auslegungen erzeugt Sokurows „Faust“ vor allem einen beängstigenden Eindruck von Klaustrophobie. Es ist dunkel, stickig und eng. Das Geräusch eines im Flug gegen eine Mauer prallenden Vogels bildet das Leitmotiv des Films. In der Darstellung des Wiener Schauspielers Johannes Zeiler übertrumpft Faust seine Mitspieler nicht und wirkt doch wie Gulliver unter den Zwergen. Durch das subjektive Empfinden seiner anderen Bestimmung, wie der Film deutlich macht. Und es flößt uns bereits im Vorhinein Furcht ein, dieses Monster, hervorgebracht von einem Monster.

Hinter der Kamera

Hinter der Kamera stand der französische Kameramann Bruno Delbonnel, dessen reicher Erfahrungsschatz bereits der Mythologie der „Harry Potter“-Filme zugute kam. Um die Visualität des „Faust“ von einem düsteren Fantasy-Streifen in eine philosophische Parabel zu überführen, genügen ihm minimalistische Mittel wie die gedämpfte Farbigkeit eines matten Graugrüns und die Anmutung alter Fotos. In diesem Film tummelt sich auf engstem Raum ein ganzer Kosmos: Mythische Wesen huschen vorüber, Raumproportionen werden verschoben, die fiktive Stadt mit ihren Studentengelagen wächst sich zu einem vielsprachigen Babylon aus. Hier beerbt Alexander Sokurows „Faust“ am stärksten „Fellinis Casanova“ aus dem Jahr 1976 und wird so zu einer Art Enzyklopädie der Kulturen.

Das Thema greift der Schöpfer der Filmmusik auf, indem er im Soundtrack feinsinnig mittelalterliche Gesänge nachempfindet, aber auch Mahler, Wagner und sogar Tschaikowski anklingen lässt. Wobei Letzterer der rauen Welt dieses Filmes unerwartet eine romantische Zartheit verleiht, die gleichsam „den Augenblick anhält“. Alexander Sokurow hat seinen Film im halbvergessenen Format 4:3 gedreht, nutzt jedoch häufig die Optik der Breitwand, und dann wirken die gestauchten Figuren mit ihren verzerrten Proportionen, als würden sie nicht mit menschlichen Augen gesehen, sondern hier offenbare sich der ANDERE Blick eines Hundes, einer Fliege oder eben des Teufels.

Der Aufstieg zu den Höhen grenzenloser Macht wird in einer schlichten Metapher umgesetzt: Die beiden Gesinnungsgenossen im absoluten Bösen erklimmen Berggipfel, bahnen sich mühevoll einen Weg zwischen den Felsen, bis sie schließlich in die Weite des Himmels hinaustreten, und dann erfüllt zum ersten Mal während der gesamten Dauer dieses düsteren Films gleißendes Licht die Leinwand.

Die Musik der Sprache


„Faust“ läuft in Deutsch, denn der Film wurde in Deutschland mit überwiegend deutschsprachigen Schauspielern gedreht. Und das nicht nur, weil Deutsch die Sprache Goethes ist. Nach der Vorführung stand außer Frage, dass man den Film so wenig in das Russische oder Italienische übersetzen kann wie eine deutsche Oper. Sokurow braucht die besondere Musik der Sprache. Man möchte sich als Zuschauer nicht ablenken lassen von den Untertiteln, entgeht einem dadurch doch unweigerlich irgendetwas in der Überfülle der szenischen Darstellung, doch es muss wohl sein.

Der harte Klang der Sprache – im Bewusstsein assoziativ verknüpft mit HEIMSUCHUNG, mit der pompösen Schönheit Wagner’scher Musik, mit dem Triumph des Rationalismus – bildet eine unverzichtbare Komponente dieses Films. Sokurow hat hervorragende deutschsprachige Schauspieler verpflichtet, orchestriert die vielen gekonnt besetzten Figuren zu einer ganzheitlichen Komposition, in der er wie ein Maler mit dem Pinsel jeder Szene ihren eigenen Ton, ihre eigene Perspektive verleiht und sie in ein suggestives Szenenbild stellt.

Der Ring des Nibelungen


„Faust“ auf der Leinwand weckt das Bedürfnis, sich auch Sokurows Filme „Taurus“, „Moloch“ und „Die Sonne“ aufs Neue anzusehen. Denn „Faust“ ist ihr Urquell, seine Helden künden als Vorläufer jene Prüfungen an, die die Geschichte für uns bereithält. Im Verbund offenbaren die Filme die grandiose Grundidee, das Konzept, das ihr Schöpfer über anderthalb Jahrzehnte hinweg entwickelte. Nun verschränkt sich alles unlösbar ineinander. Sokurows „Faust“ zeichnet ein phänomenales philosophisches Bild der Welt, in der wir leben, zeigt sie in ihrer Vergangenheit, Gegenwart und hypothetischen Zukunft. Als seine Filme „Moloch“ über Adolf Hitler, „Taurus“ über Wladimir Lenin und „Die Sonne“ über Japans Gottkaiser Hirohito herauskamen, konnte man den Eindruck gewinnen, Sokurow ginge es um die Entthronung von Idolen.

Der historische Kontext interessierte den Regisseur so wenig, dass diese Streifen auf Unverständnis stießen: Wie konnte ein solcher Hitler ganz Europa erobern? Wie konnte ein solcher Lenin zu einem der Denker seines Jahrhunderts werden? „Faust“ lässt nun die Proportionen der Intention deutlich werden. Schritt für Schritt haben sich Juri Arabow und Alexander Sokurow herangetastet an jene höchste Stufe des Symbolischen, die Goethes Figuren universell für alle Zeiten und Kollisionen macht. Sokurows filmische Tetralogie handelt von der teuflischen Hässlichkeit jedweder Macht. Von deren inneren Triebkräften und Motiven, über die sich nicht einmal der Mächtige selbst Rechenschaft ablegt. Es sind Filme über die Tragödie höchster Machtvollkommenheit, die stets aus niedrigen Instinkten erwächst. Filme über die Ausstrahlung der Macht, die unweigerlich alles in ihrem Umkreis zersetzt. Der Ring der Nibelungen – der mächtigen Zwerge – hat sich geschlossen.

Alexander Sokurows „Faust“ fällt heraus aus dem Programm des 68. Filmfestivals in Venedig, das man bereits jetzt als beispiellos schwach bewerten kann. In diesem Festival-Jahrgang gibt es zwei, drei gute Filme, die die Jury mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht unbeachtet lassen wird. Doch ein Werk, das von seinem künstlerischen Maßstab her mit Sokurows jüngster Schöpfung vergleichbar wäre, haben wir in Venedig viele Jahre lang nicht gesehen. Die Tetralogie Juri Arabows und Alexander Sokurows hat sich im Grunde erst in „Faust“ vollendet, jetzt müssen wir uns aufs Neue mit den vier Filmen auseinandersetzen.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei der Tageszeitung Rossijsaka Gazeta.

Der Trailer zum Film

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