Sing wie du lebst, leb wie du singst

Erst lernte Igor Rasterjajew Gitarre. Dann kam er zum ureigensten russischen Instrument: der „Tschaika“-Zieharmonika.

Erst lernte Igor Rasterjajew Gitarre. Dann kam er zum ureigensten russischen Instrument: der „Tschaika“-Zieharmonika.

Er erzählt von der Straße, von einfachen Soldaten und Mähdrescherfahrern. Mit 
wahren Geschichten hat sich Igor Rasterjajew in die Her
zen der Russen gesungen.

Igor Rasterjajew

Geburtsort: St. Petersburg
Geburtsjahr: 1980
Beruf: Volkssänger

Das größte Open Air Russlands, unweit von Moskau. Knapp 170 000 Besucher huldigen verschiedenen Rockgrößen, allesamt lebende 
Legenden, die mehrere Generationen geprägt haben. Dann kommt Igor: schwarzes Shirt, schwarze Jeans, Turnschuhe, zerzaustes Haar. Er setzt sich vor das Mikro und beginnt zu singen. Seine einzige Begleitung: eine rote „Tschaika“-Ziehharmonika, die er virtuos beherrscht. Ein suggestiver Song folgt auf den nächsten: „Kosakenlied“, „Der Russische Weg“, „Kamille“ und der 
Superhit „Kombajnjory“ (Mähdrescherfahrer) - die Festivalbesucher können ihn mitsingen.


Der junge Mann auf der Bühne hält kurz inne und sieht auf das Publikum. Zehntausende jubeln. Ihm stockt der Atem, er lacht schüchtern, bedankt sich. Igor Rasterjajew, der YouTube-Star mit Harmonika, ist überwältigt.

Zwischen Stadt und Dorf

 
Sieht man seine Videos im Netz, könnte man meinen, Igor fahre tagtäglich mit dem Traktor über die weiten Kornfelder Südrusslands, kippe gläserweise Selbstgebrannten, um dann zu seiner Harmonika zu greifen und Lieder über den Alltag auf dem Land oder den Großen Vaterländischen Krieg zu singen. Auf seinen per Mobiltelefon aufgenommenen Clips sieht man Dorfbewohner bei der Arbeit, wogende Felder oder Schnee, so weit das Auge reicht. Und ihn mittendrin. Um das Klischee perfekt zu machen, fehlte nur noch die „Schapka-Uschanka“ – die Pelzmütze. Doch ganz so einfach lässt sich die Geschichte Rasterjajews nicht erzählen. Er singt zwar über das Dorfleben, hält sich aber nur saisonweise auf dem Land auf. Eine „doppelte Staatsbürgerschaft“ hat er, wie er sagt. 


Igor Rasterjajew stammt aus einer Sankt Petersburger Künstlerfamilie und lebt heute in einer 
typischen Platte. Er ist gelernter Schauspieler und arbeitet seit acht Jahren in einem Musik- und Dramentheater. Davor spielte er für Kinder, und da meistens das Krokodil. „Am Anfang jeder Vorstellung musste ich erklären, was ich überhaupt darstelle“, erinnert er sich lachend. Auch heute übernimmt er keine Titelrollen, sondern „markante Charaktere“, wie er es nennt. „Beatboxer, Alkoholiker, am besten gelingen mir Soldaten“, gibt er zu, und seine grünen Augen blitzen schelmisch.


Fische fangen und singen


Igor Rasterjajew hat trotz seiner äußerlich ruhigen Art ein überbordendes Temperament. Es könnte an den kosakischen Wurzeln seines Vaters liegen. Denen hat er es auch zu verdanken, dass er von klein auf jeden Sommer 36 Stunden mit dem Zug in das Dorf Rakowka fuhr, 170 Kilometer von Wolgograd entfernt.


Wie in jedem Jahr hat er auch in diesem seinen 31. Geburtstag dort gefeiert. Stolz zeigt er auf dem zerkratzten Display seines Handys ein Video, auf dem man ihn sieht, wie er mit braungebranntem Oberkörper stolz einen Fisch präsentiert. „Nichts Besonderes, um die vierzig Kilo“, erklärt Igor. Seit Jahren gibt er in dem kleinen Ort Konzerte, immer auf einem der fünfzehn Höfe, in denen zum Großteil seine Verwandtschaft lebt.


Früher war es die Gitarre, auf der er Rockklassiker zum Besten gab, mit 18 brachte ihm ein Kommilitone von der Theaterschule das Harmonikaspiel bei. „Das ist unser eigentliches Instrument, nicht die Balalaika, wie man häufig im Ausland denkt“, erklärt Igor, bevor er seine mittlerweile aus fünf verschiedenen Harmonikas bestehende Sammlung genau beschreibt. Nie hat er eine Musikschule von innen gesehen. „Was ist schon dabei, ist doch einfach“, sagt er achselzuckend.


Aus seinen alljährlichen Sommerferien brachte Igor Geschichten mit, die er nach und nach ausformulierte. Eigentlich wollte er ja keine Lieder, sondern Bücher 
schreiben. Sein erstes veröffentlichte er 2004, „Wolgograder 
Gesichter“ hieß es: Kurzgeschichten, begleitet von seinen Zeichnungen der Menschen, die darin vorkamen. 


An der Fortsetzung arbeitet er seit sieben Jahren. „Langsam müsste ich es mal beenden“, sagt er nachdenklich und nippt an seinem „Sbiten“ – einem meist alkoholfreien Heißgetränk aus Honig und Gewürzen. Apropos Alkohol: Igor  trinkt keinen - dem ersten Eindruck zum Trotz -, sogar Nichtraucher ist er.


Lieder über Menschen, die es nicht gibt

 
Dafür singt er in „Kamille“ über den Alkoholtod junger Dorfbewohner: „Keine Arbeit, kein Zuhause, nur das Fläschchen und das Gläschen. Statt Wasja und Roman – Kornblumen und Kamille auf ihren Gräbern.“ Rasterjajew singt über Russland auf eine Art und Weise, wie es lange niemand getan hat. Das 
erklärt die Millionen Klicks bei YouTube, seinen Erfolg, den er selbst nicht versteht.


Die plötzliche Berühmtheit ist ihm fast peinlich. Mit der Veröffentlichung seines Erfolgssongs über die Wolgograder Mähdrescherfahrer hatte er nichts zu tun. „Das ist ein altes Lied, ich habe es schon 2009 geschrieben, alle meine Freunde kannten es längst.“ Einer von ihnen nahm den Song mit dem Handy auf und stellte das Ganze online. Man sieht einen wie immer leicht zerknitterten Igor in der Küche, im Hintergrund eine Flasche Sonnenblumenöl. „Weit weg von den großen Städten, wo es keine teuren Läden gibt, dort leben andere Menschen, über die man sonst nicht singt. Man zeigt sie in keiner Soap, denn sie passen nicht ins Bild. Auch das Internet schreibt nicht über sie, es ist so, als gäbe es sie nicht“, singt er. Von seiner Ehrlichkeit könnten sich manche Stars etwas abschneiden, meinen seine Fans. „Du schreibst, wie du lebst, und lebst wie du schreibst“, kommentieren sie auf seiner Homepage.


Was ist Patriotismus?

" Im Sommer bin ich über die Felder gefahren. Sie gehörten meinen Vorfahren. Früher war dort ein ganzes Dorf. Heute sind es verfallene Häuser, verarmte Menschen. Als ich das sah, musste ich weinen.” - Rasterjajew über das Dorf Rasterjajewo


Er selbst sagt: „Ich mache doch einfach nur das, was ich kann. Ich schreibe über das, was ich sehe.“ Patriotisch ist seine Erscheinung, ebenso wie die Texte seiner Lieder. Doch er behauptet, er könne mit dem Begriff „Patriotismus“ nichts anfangen. „Obwohl“, meint er dann nachdenklich, „diesen Sommer bin ich auf dem Motorrad über die Felder  gefahren. Sie gehörten meinen Vorfahren. Früher war dort ein ganzes Dorf - Rasterjajewo. Heute sind das 
verfallene Häuser, verarmte Menschen, verlassene Felder, als ob eine Horde Barbaren durchgezogen wäre. Als ich das sah, musste ich weinen. Vielleicht ist das Patriotismus?“


„Der Russische Weg“, sein Lied über den Großen Vaterländischen Krieg, steht in den Radiocharts auf Platz eins. An ein Musiklabel binden will sich Igor Rasterjajew dennoch nicht. Seine Freiheit ist ihm mehr wert als Geld und Erfolg. Als der Chef des staatlichen Jugendkommitees ihm einen professionellen Videoclip über die „Mähdrescherfahrer“ anbot, willigte er erst ein und schickte das Filmteam später zum Teufel. „Das Musikarrangement hat sich überhaupt nicht nach mir angehört“, sagt er. „Ich bin nur dann kreativ und lebensfähig, wenn ich an nichts gebunden bin. Ich muss Gegensätze spüren, Unsicherheit und Chaos. Als ob das Eis, auf dem ich fische, einen ganz leichten Riss bekommt.“

Igor Rasterjajew wird 1980 in Sankt Petersburg geboren. 2002 absolviert der damals 22-Jährige in derselben Stadt die Theaterhochschule und arbeitet danach als Schauspieler beim Theater Buff. 2004 kommen seine „Wolgograder Gesichter“ heraus, 2006 erhält er einen überregionalen Schauspielpreis für „originelle Nebenrollen“. 2009 erfolgt sein Durchbruch in der Musik: Er schreibt den Song „Kombajnjory“ - Mähdrescherfahrer – und wird über YouTube damit in der gesamten Russischen Föderation bekannt. Im Februar 2011 präsentiert Igor Rasterjajew sein erstes Album „Der Russische Weg“, einige Monate später wird ihm der Musikpreis „Steppenwolf“ verliehen. Seine mit dem Handy aufgenommenen YouTube-Videos erreichten im Sommer 2011 über neun Millionen Klicks.

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