Die Revolution ist noch nicht vorbei

Foto: Reuters

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Muammar al-Gaddafi lebt nicht mehr. Der ehemalige Machthaber der Libysch Arabischen Dshamahirija wurde gestürzt von einer Revolution, die sich zum Bürgerkrieg ausgewachsen hat, und ist nun bei seiner Gefangennahme getötet worden. Ein Meinungsspiegel aus Russland.

Über die genauen Todesumstände gibt es widersprüchliche Angaben. Eine Version besagt, das Auto, in dem der Oberst aus seiner von Truppen des Nationalen Übergangsrates belagerten Heimatstadt Sirt fliehen wollte, sei von NATO-Einsatzkräften aus der Luft unter Beschuss genommen worden. Andere Quellen melden, Kämpfer des Nationalen Übergangsrates hätten Gaddafi in der Röhre einer Abwasseranlage aufgespürt und festgenommen, bei einem Kreuzfeuer habe er Schussverletzungen an beiden Beinen erlitten, denen er erlegen sei.

Jedenfalls ist Muammar al-Gaddafi tot und die Vernichtung des Despoten offiziell bestätigt. Präsident Dmitri Medwedew nannte die Nachricht von der Ergreifung des ehemaligen libyschen Machthabers „eine großartige Neuigkeit“. Noch eindeutiger urteilte Michail Margelow, der Afrika-Sonderbeauftragte des russischen Präsidenten. „Dieses Ungeheuer, dieser diabolische Oberst hat die Zivilbevölkerung aus der Luft bombardiert und damit das moralische Recht verloren, sich Oberhaupt seines Landes zu nennen“, erklärte Margelow gegenüber der Tageszeitung „Iswestija“. „Ob Gaddafis Leichnam nun den Fernsehkameras vorgeführt wird oder nicht, spielt eine gänzlich untergeordnete Rolle. Die gemeinsame, koordinierte Position der Weltgemeinschaft bestand in der Übereinkunft, dass in einem neuen Libyen für Muammar al-Gaddafi kein Platz mehr ist.“

Ruslan Puchow, Direktor des Moskauer Zentrums für strategische und technologische Analysen, beurteilt die Perspektiven dieses neuen Libyens vergleichsweise skeptisch. „Libyen hat nur sehr geringe Chancen, als ganzheitlicher Staat erhalten zu bleiben“, begründet er seine Auffassung. „Ungeachtet der Extravaganz seines Äußeren und seiner bizarren Manieren vermochte es Oberst Gaddafi, ein durchaus handlungsfähiges Stammesbündnis um die eigene Person zu schmieden. Dieses Bündnis ist jetzt zerfallen.“

Nach Meinung Puchows kann sich der Nationale Übergangsrat nicht lange an der Macht behaupten. „Das Einzige, was diese seltsame Allianz aus Gaddafi-loyalen Renegaten, islamischen Fundamentalisten und gewöhnlichen Kriminellen zusammengehalten hat, war der gemeinsame Feind Muammar al-Gaddafi“, wertet der Experte. „Jetzt wird man die Kriminellen wieder zu sozialem Bodensatz degradieren, die ehemaligen Gaddafi-Anhänger von der Macht verdrängen und höchstwahrscheinlich aufknüpfen, während die direkt mit der Al Kaida verbundenen Islamisten die Oberhand gewinnen.“

Einen analogen Standpunkt vertritt auch Sergej Seregitschew vom Moskauer Nahost-Institut. „Die Vernichtung Gaddafis ist gleichbedeutend mit dem Untergang des libyschen Staates“, lautet sein in der Tageszeitung „Iswestija“ veröffentlichter Kommentar. „Denn nur Gaddafi konnte die drei historischen Großprovinzen des Landes – die Kyrenaika, Tripolitanien und den Fessan – zusammenhalten. Der Nationale Übergangsrat wird ohne westliche Unterstützung nicht an der Macht bleiben.“

Doch gerade diese Unterstützung könnte sich nach dem gewaltsamen Tod Muammar al-Gaddafis schwierig gestalten. Denn die Regierungschefs der Nato-Staaten dürften ihren Wählern jetzt kaum erklären können, warum man Libyen Geld und Waffen geben sollte. Genau das wird aber nötig sein, ist Seregitschew überzeugt.

„Man muss sich vor Augen führen, dass nicht der gesamte Gaddafi-Clan vernichtet ist. Seine Söhne sind am Leben, auch ihm treu ergebene Generäle, vor allem aber ist da noch Gaddafis Geld, denn das hat bis jetzt niemand gefunden. Diese Mittel werden nun in die Entfesselung eines Bürgerkriegs in Libyen und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in die Organisation von Terrorakten in Europa sowie den USA fließen.“

Bis in die Vereinigten Staaten schaffen es die libyschen Terroristen möglicherweise nicht, aber bis Westeuropa, das lediglich ein schmaler Streifen Mittelmeer von Libyen trennt, auf jeden Fall. Und es ist kaum abzusehen, dass es an todesmutigen Rächern „für Gaddafi“ mangeln könnte. Besonders jetzt, nachdem der heldenhafte Untergang des Operettenobersts beinahe in Echtzeit in den Medien zu erleben war.

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