Swiaginzew blickt in menschliche Abgründe

„Jelena". Foto: Pressebild

„Jelena". Foto: Pressebild

Der neue Spielfilm des Regisseurs Andrej Swiaginzew „Jelena" ist seit Ende September in den Kinos- und zieht noch immer viele Zuschauer an. Flüsterpropaganda ersetzt eine aufwendige Werbekampagne für das Werk.

Inzwischen dürfte der Name des Regisseurs auch in Westeuropa bekannt sein, hat er doch im Jahre 2003 auf dem Filmfestival in Venedig gleich zwei goldene Löwen für seinen Debütfilm „Die Rückkehr" erhalten - und den Preis der europäischen Filmakademie, den „Felix" in der Kategorie „Europäische Entdeckung des Jahres" noch dazu. Swiaginzews Debütfilm erhielt auch zu Hause in Russland zwei goldene Adler und eine Nika, zwei wichtige und anerkannte Filmpreise.

Der zweite Spielfilm des Regisseurs „Die Vertreibung" lief 2007 im Wettbewerbsprogramm in Cannes und erhielt den Preis für die beste männliche Hauptrolle sowie im gleichen Jahr auf dem Moskauer Filmfestival den Sonderpreis der Filmklubs und eine Nominierung für den europäischen Filmpreis für die beste Kamera. „Jelena", der jüngste Film Swiaginzews, erhielt den Sundance-Preis schon vor Beginn der Dreharbeiten für das beste Drehbuch und 2011 in Cannes den Spezialpreis der Jury.

Was macht der in Sibirien geborene Regisseur, der ursprünglich Schauspieler werden wollte, so anders, dass man sich seinen Filmen nicht entziehen kann? Er seziert unsere Seelen, unser Wesen, unser Umfeld bedingungslos und gnadenlos. Und gleichzeitig sehr leise. So ist auch „Jelena" ein ruhiger und unaufgeregter Film mit langen Einstellungen, von denen der Zuschauer durch Internet, Clips und Spezialeffekte bereits entwöhnt ist. Am Anfang blicken wir als Voyeure durch Baumgeäst in die Fenster der Helden, die Stille wird nur von durchdringendem Krächzen der Raben durchbrochen.

Der Sprengstoff liegt unter der Oberfläche


Gezeigt wird der Alltag eines älteren Ehepaares, welches erst seit kurzem verheiratet ist. Der Ehemann war zu Geld gekommen, sie führen ein gesichertes und beinahe luxuriöses Leben. Wladimir (Andrej Smirnow) hat Jelena (Nadeschda Markina) geheiratet, nachdem sie ihn als Krankenschwester nach einer Blinddarm-OP gepflegt hatte. Von seiner ersten, offensichtlichen kapriziösen Frau, die nur auf sein Geld scharf war, ist er geschieden - und er hat eine erwachsene und sehr eigenwillige Tochter, zu der er kaum Kontakt hat.

Der Alltag läuft in eingefahrenen Bahnen, sie haben getrennte Schlafzimmer, Jelena macht täglich das Frühstück, sie sprechen nur das Nötigste miteinander, sie räumt auf, kauft ein. Wladimir geht früh zum Fitness. Seine Frau betrachtet er als Gegenstand. Das wird besonders deutlich, als er nach dem Frühstück unvermittelt Sex will, was Jelena ohne Widerstand und ohne Emotionen über sich ergehen lässt.

Munter und aktiv wird sie erst, als sie sich zu ihrem Sohn in einen abgelegenen Stadtteil mit herunter gekommenen Häusern aufmacht. Sie holt ihre Rente ab und fährt dann mit Vorortbahn und Sammeltaxi zu ihrem Ziel. Den letzten Teil des Weges geht sie zu Fuß.

Ihr erwachsener Sohn ist arbeitslos und weder bereit noch in der Lage, diese Situation zu ändern. Muss er ja auch nicht, seine Mutter und ihr neuer Ehemann halten ihn aus. Die Familie des Sohnes haust in einer ungepflegten und voll gestopften Plattenbauwohnung, wo nur an einem kein Mangel herrscht – an Bier.

Die Ehefrau hat sich dem gefügt, der älteste Sohn muss zur Armee, der Kleine kann gerade laufen. Um den Sohn vom Armeedienst freizubekommen, wird eine beträchtliche Summe gebraucht. Er soll studieren, weil Studenten nicht eingezogen werden, hat aber weder Grips noch Lust dazu.

Migration in höhere Schicht missglückt


Der Familienvater steht auf dem baufälligen Balkon, blickt auf die Kühltürme des Heizkraftwerkes vor der Nase und spuckt gedankenverloren in die Tiefe.

Sowohl in der Platte als auch an anderen Orten, im Fitnessclub zum Beispiel und im Hause Jelenas läuft ständig der Fernseher, wo Originalausschnitte aus Fernsehshows des russischen Fernsehens gezeigt werden. Dümmer geht's nimmer, das kann man über die Schulter hinweg ohne Probleme sehen.

Jelana sorgt für ihren Sohn, was ihren Ehemann ob der Sinnlosigkeit erregt – er will beispielsweise das Geld für die Loseisung vom Wehrdienst nicht locker machen, weil der junge Mann ja einen Vater hat, der das auch bewerkstelligen könnte. Außerdem möchte sie aus einem Bauchgefühl heraus, dass sich ihr Gatte uns seine Tochter wieder besser verstehen. Dazu sucht sie eigens die Tochter auf - und hat mit ihrer Mission auch Erfolg.

Der Vater merkt, dass er eine etwas eigenwillige, aber kluge und sogar warmherzige Tochter hat, die er zu Unrecht über Jahre mit seiner geschiedenen Frau gleich gesetzt hat und deshalb den Kontakt nie gesucht hatte.

Nach der Begegnung teilt er seiner Frau Jelena mit, dass er das Testament, das sie als Alleinerbin vorsieht, ändern wird. Ohne Rücksicht auf Verluste legt er fest, dass die Tochter alles erben wird und Jelena nur eine monatliche Unterhaltszahlung bekomme.

Jelena wird sofort klar, dass damit die großzügige Unterstützung für den schmarotzenden Sohn nebst Anhang flach fällt und sinnt auf eine Lösung. Wissend, dass ihr Mann Herzprobleme hat, wälzt sie medizinische Literatur und wird fündig. Sie bringt ihn kaltblütig mit einer Überdosis Viagra um.

In der Familie ihres Sohnes kündigt sich erneut Nachwuchs an, was sie euphorisch kommentiert. Die ganze Bande zieht in die Luxuswohnung ein und nimmt sie auf ihre Weise in Beschlag. Der Enkel steht wie kürzlich der Sohn auf dem Balkon, nun allerdings in weitaus schönerer Umgebung, und spuckt gedankenverloren in die Tiefe.

Schuster, bleib bei Deinen Leisten?


Swiaginzew zeigt gnadenlos, dass niemand seinem sozialen Ursprung entrinnen kann und bei seinen Leisten bleiben sollte. Diese Ansicht muss man nicht teilen, kann sich aber ihrer Nachdrücklichkeit nicht entziehen.

Die Seiteneinsteiger in die gehobene Gesellschaft haben es zumindest in Russland geschafft, diese zu degradieren und in Misskredit zu bringen. Beredtes Beispiel sind die so genannten Neuen Russen, die in den 90er Jahren über Europa fegten und zwiespältige Reaktionen hervorriefen. Heute maskieren sie sich ein bisschen, was ihnen aber nicht hilft!

Am Schluss des Films wird Swiaginzews Aussage noch massiver. Auf der Wiese unter den Balkonen der Behüteten spielen Gastarbeiter aus Asien und dem Kaukasus wild Fussball – und scheren sich einen Dreck um die Ruhe und die Gediegenheit des elitären Viertels.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Russland Aktuell. 

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