"I'm dreaming of a white Christmas"

Irving Berlin emigrierte aus dem Zarenreich in die USA und wurde zur lebenden Legende des Broadway. Foto: Corbis/Foto SA

Irving Berlin emigrierte aus dem Zarenreich in die USA und wurde zur lebenden Legende des Broadway. Foto: Corbis/Foto SA

Er brachte den Broadway zum Tanzen und schenkte den Amerikanern den Traum von einer weißen Weihnacht. Geboren wurde Irving Berlin 1888 in der sibirischen Provinz.

Vor hundert Jahren gab es in den Cafés von New York weder Lautsprecher, aus denen Indie-Pop oder Progressive House schallten, noch Plasmafernseher, die Fashion TV zeigten. Die Musik kam von Kellnern, den Singing Waiters, und Caféhausbetreiber wetteiferten um die besten Interpreten.

Der Besitzer des Pelham war in jenem Jahr 1902 verzweifelt auf der Suche nach einem neuen Hit, die Besucher wanderten schon zur Konkurrenz ab. Die Musik lieferte der Hauspianist, doch es fehlte an einem passenden Text. Aber wozu hatte er gerade einen jungen Burschen als Singing Waiter eingestellt?

Der neue Song „Marie from Sunny Italy“ holte nicht nur das Publikum ins Pelham zurück, sondern er wurde ein solcher Erfolg, dass ihn gleich ein Musikverlag druckte. Der singende Kellner erhielt sein erstes Honorar – und einen neuen Namen, der zur Legende werden sollte.

Das Lied besang zwar eine Maria aus dem sonnigen Italien, doch der Texter stammte aus dem westsibirischen Tjumen. Ein Schreibfehler auf dem Titelblatt der Druckfassung machte aus Beilin „Berlin“, jenen Mann, von dem der bekannte Broadway-Komponist Jerome Kern später sagte: „Irving Berlin hat keinen Platz in der amerikanischen Musik. Irving Berlin ist die amerikanische Musik.“

Jüdisch-russische Emigranten am Broadway

Im Russland des 19. Jahrhunderts konnte schon ein unvorsichtiges Wort antisemitische Übergriffe nach sich ziehen. Ein Pogrom in der weißrussischen Kleinstadt Tolotschin, wohin die Beilins aus Tjumen umgezogen waren, veranlasste Moses und Lena Beilin 1893, mit ihren sieben Kindern die beschwerliche Emigration nach Amerika zu wagen.

Würde jemand ein Lexikon aller am Broadway erfolgreichen Juden russischer Abstammung erstellen, käme dabei ein dicker Wälzer heraus: Der aus einer russisch-jüdischen Familie stammende King of Swing, Benny Goodman, wuchs noch heran, als Amerika den litauischen Entertainer Al Jolson zum Liebling des Showbusiness erkor. Morris Gershovitz, Vater von George Gershwin, war ein 
bekannter Petersburger Waffenschmied, doch hätten seine Kinder dort niemals eine solide Ausbildung erhalten, denn ein Gesetz begrenzte den Zugang jüdischer Bewerber zu mittleren und höheren Bildungsanstalten.

Die Melodien der jüdischen Emigranten, die vor dem Pogrom-Mob in Russland geflohen waren, 
ähnelten erstaunlich der in Mode gekommenen „schwarzen“ Musik. Deshalb verunglimpfte die Nazi-Propaganda der 1930er-Jahre den neuen Jazz auch als „Neger- und Judengefiedel“.

Komponieren ohne Noten

Irving Berlins gesamte musikalische Bildung stammte aus einigen Besuchen der Synagoge, in der sich sein Vater als Kantor etwas hinzuverdiente. Als der junge Irving das erste Honorar in Höhe von 37 Cent in den Händen hielt, beschloss er, sich ernsthaft als Texter zu versuchen und seine Songs Komponisten anzubieten. Doch die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit befriedigten ihn nicht. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als die Musik selbst zu schreiben.

Allerdings konnte er weder Noten lesen noch besonders gut Klavier spielen. Die Vertonungen der ersten Lieder diktierte Berlin dem Komponisten Arthur Johnson. Seine wichtigsten Songs aber schrieb Helmy Kresa nieder, langjährige Sekretärin.

1911 landete Irving Berlin mit „Alexander’s Ragtime Band“ seinen ersten Hit, den Jazz-Größen wie Al Jolson, Louis Armstrong oder Ray Charles später in ihr Repertoire aufnahmen. Und auch nach seiner Rückkehr aus der Armee blieb dem Komponisten der Erfolg treu. Er gründete einen Musikverlag, eröffnete am Broadway das Theater The Music Box und gehörte zu den Initiatoren der ASCAP, der US-amerikanischen Verwertungsgesellschaft für Musikprodukte.

Zwei tragische Todesfälle überschatteten Berlins Erfolg: eine Woche nach der Hochzeitsreise starb seine Frau Dorothy, in der Weihnachtsnacht des Jahres 1928 sein Sohn. Eines Tages kam Berlin in sein Büro gehastet und rief der Sekretärin zu: „Schreib das auf. Ich habe gerade mein allerbestes Lied im Kopf.“ Und Helmy Kresa brachte „White Christmas“ zu Papier, jenes Lied von der glücklichen Weihnacht, die dem Komponisten seit dem Tod seines Sohnes nicht mehr beschieden war. „I’m dreaming of a white Christmas“ ist bis heute das beliebteste Weihnachtslied Amerikas.

Inoffizielle Nationalhymne

„God Bless America“, Berlins nächster großer Hit im Jahr 1938, wurde gar zu einer Art inoffizieller Nationalhymne der USA. Ende der 50er brachte Irving Berlin noch mehrere erfolgreiche Broadway-Musicals auf die Bühne, doch bald begann Amerika, die Hüften kreisen zu lassen wie Elvis Presley, kaufte wie besessen die Debütalben Bob Dylans und sang mit den Beatles „Yeah, yeah, yeah“. Berlins Stern sank, er passte nicht mehr zum Rock’n’Roll der 1960er-Jahre.

„Ich bin sehr glücklich, dass Amerika meinen Vater nicht vergessen hat. Er ist Fleisch und Blut der amerikanischen Kultur“, sagte seine Tochter Linda Emmet viele Jahre später. In den 1990ern 
besuchte sie den Geburtsort ihres Vaters. Auf einem Jazz-Festival wurden in Tjumen einige seiner Songs gespielt.  Weil sich 
Tjumen ebenfalls an Irving Berlin erinnert, wenn auch nur in Gestalt einiger weniger Musik-Enthusiasten.

Der Jazz und die russischen Emigranten

Seit Ende des 19. Jahrhunderts flohen Hunderttausende russischer Juden aus dem Zarenreich und hinterließen ihre Spuren im amerikanischen Jazz: Der Sänger Al Jolson, Bandleader Raymond Scott, George Gershwin und der Komponist der „Westside Story“ Leonard Bernstein, Benny Goodman und der Saxophonist Stan Getz sind nur die bekanntesten. Auch ein anderer wäre ohne russisch-jüdische Hilfe womöglich nicht zu jenem großartigen Musiker geworden: Louis Arm-strong bekam seine erste Trompete von den nach New Orleans ausgewanderten Karnofskys.

Die üngekürzte Fassung des Beitrags erschien zuerst in der Zeitschrift Smena.

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