Schluss mit der schönen alten Welt

Moskau, 24. Dezember: Fast 100.000 Menschen sammelten sich zur Protestdemo gegen gefälschte Wahlen. Foto:Ilja Warlamow

Moskau, 24. Dezember: Fast 100.000 Menschen sammelten sich zur Protestdemo gegen gefälschte Wahlen. Foto:Ilja Warlamow

Die Massenproteste nach den Duma-Wahlen haben blitzartig die politische Situation verän-dert – werden aber nicht Putins dritte Amtszeit als Präsident verhindern können.

Iwan ist 20, kommt aus Moskau und studiert Physik. Heute sitzt er aber nicht in der Vorlesung, sondern in einer Baumkrone. Statt eines Stifts hat er ein Plakat in der Hand: „Moskau glaubt Einiges Russland nicht!“ Der Wahlbeobachter nimmt am 10. Dezember an der Protestkundgebung am Bolotnaja-Platz teil, aus guten Gründen: „Ich wurde aus dem Wahllokal geworfen, weil ich die Manipulationen auf Video festhalten wollte. Ich bin hier, weil sie mich wie Vieh behandelten. Und damit ist jetzt Schluss.“

Jung, aktiv, gebildet: Eigentlich wäre Iwan der typische Vertreter einer Protestbewegung. Überall auf der Welt, nur nicht in Russland, wo die Studentenschaft meist lethargisch und apolitisch ist. Die vergangenen Proteste wurden von einer anderen Kraft getrieben – der Mittelschicht. 50 000, vielleicht 100 000 zog es zu den Protesten im Dezember. Laut dem Meinungsforschungsinstitut WZIOM war der Großteil der Demonstranten weit über 20. 37 Prozent waren sogar älter als 45. Fast 80 Prozent haben aber studiert.

Ursache und Wirkung

Diese neue Schicht zog es auf die Straße, weil sie den mit dem Regime seinerzeit abgeschlossenen „Pakt“ satt hat. „Ihr gebt uns Loy-alität, und wir geben euch Stabilität“, erklärt Alexander Ausan, Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler, die Mensch-Macht-Beziehungen Russlands. Der Schriftsteller Boris Akunin, einer der Protestführer, formuliert es bissiger: „Macht doch, was ihr wollt, aber lasst uns unser Popcorn.“ Kurzum: Hingerissen vom Aufbau einer Konsumgesellschaft, vergaß die Mittelschicht völlig die Politik. Bis der Pakt an einem be-stimmten Punkt zu Bruch ging.

„Bis heute wollte der russische Bürger nur eines, nämlich Ruhe vom 20. Jahrhundert - nach der Revolution, den Kriegen, dem Stalinismus und diesem ganzen Hokuspokus. Er wollte arbeiten, sich einrichten, eine Wohnung kaufen. Diese Regierung hat das ermöglicht. Aber jetzt brauchen die Menschen eben mehr“, glaubt der 46-jährige Fjodor Scheberstow, Mitarbeiter einer Personalagentur, der erstmals im Leben an einer Demonstration teilnimmt.

Der Unternehmer Wladimir Zai bringt es auf den zivilgesellschaftlichen Punkt: „Ich habe mich stets als Staatsbürger wahrgenommen. Aber früher habe ich der Regierung vertraut und gedacht: Na gut, vielleicht nicht sofort, aber irgendwann wendet sich alles zum Guten. Ich war bereit, vieles hinzunehmen in der Hoffnung, dass es meine Kinder einmal besser haben. Doch dann habe ich begriffen: Es ändert sich überhaupt nichts. Ich bin das Warten leid.“

Ausmaße

Die Machtanhänger schätzen das Protestpotenzial als gering und auf das Internet beschränkt ein. So ließ das Magazin Expert jüngst die Akademie

der Wissenschaften das politisierte Segment des russischen Internets auswerten. Über zwei Wochen wurden sämtliche Einträge in Blogs und sozialen Netzwerken auf Begriffe aus dem politischen Sprachschatz analysiert – wie „Putin“, „Medwedjew“, „Nawalny“ oder „Einiges Russland“. Das Ergebnis: Von den inzwischen 60 Millionen Internetnutzern in Russland generieren etwa 1000 „politische“ Inhalte, die etwa 30 000 Nutzer kommentieren. Die Anzahl der Leser dieser Beiträge sei nicht abschätzbar. „Trotzdem dürfte das einschlägige Auditorium und damit das Protestpotenzial nicht über einer Million liegen“, schlussfolgert Walerij 
Fadejew, Chefredakteur des 
Magazins, Auftraggeber der Studie - und Mitglied von Einiges Russland.

Seine Angaben erscheinen stark untertrieben. Im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2007 büßte Einiges Russland rund zehn Millionen Stimmen – etwa 15 Prozent – ein. Zieht man die manipulierten Wählerstimmen ab, dürfte die Zahl noch höher liegen.

„Die Menschen haben gegen Einiges Russland gestimmt, weil die Korruption alle vorstellbaren Grenzen übersteigt. Unsere Stadt ist klein, hat nur 60 000 Einwohner, und jeder weiß, wie viel man zahlen muss, um bei der Polizei oder einem Gericht angestellt zu werden. Ohne Geld läuft überhaupt nichts“, beschwert sich der Bewohner einer Provinzstadt bei Rostow.

Die aberwitzige Korruption unter den Beamten ist die größte Triebkraft der Protestwahl. Der Blogger Alexej Nawalny begriff diese Tendenz und prägte den populären Slogan „Einiges Russland – Partei der Gauner und Diebe“.

Diese Ablehnung richtet sich aber nicht gegen Wladimir Putin, sondern gegen die lokalen Behörden. Und in den kleineren Städten ist der Protest nur passiv. In besagtem Städtchen erhielt Einiges Russland offiziell 60 Prozent der Stimmen. Die Einwohner wissen, dass die Zahl nicht stimmen kann. Auf die Straße gehen sie nicht. Diese Passivität garantiert Putins dritte Amtszeit. Sie erklärt auch die hämische Reaktion der Machthaber auf die Proteste.

Einerseits gingen sie Kompromisse ein: Die Parteiengesetzgebung wurde liberalisiert, die von Putin abgeschafften Direktwahlen der Gouverneure sollen wieder eingeführt werden. Und Wladislaw Surkow, oft als „Graue Eminenz“ und größter Antidemokrat im Kreml bezeichnet, musste die Präsidialverwaltung verlassen. Gleichzeitig aber bezeichnete Surkow die Demonstranten als „besten Teil der russischen Gesellschaft“, doch Putin wies die Ansprüche dieses „besten Teils“ auf Machtbeteiligung in einem Zeitungsartikel prompt zurück: „Worüber sollen wir uns denn einigen? Wie die Landesführung zu gestalten wäre? Und sie gleich an die ‚besten Leute‘ übergeben? Und was passiert dann?“

Keine Revolution, noch nicht


Mit ein Grund für Putins Spott sind fehlende Führungsfiguren innerhalb der Protestbewegung. Den Oppositionellen, die dem Putin-Regime die Stirn bieten wollen, misstrauen die Protestierenden. Deshalb waren es keine Politiker, die bei den Kundgebungen Gehör fanden, sondern Schriftsteller, Journalisten, Musiker und Blogger. Sie leiten die „Liga der Wähler“, die über den Ablauf der Präsidentschaftswahlen im März wachen will. Und sehen sich fern aller politischen Parteien.

Strukturen, die den Protest der Mittelschicht bündeln könnten, wollen der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin und der Oligarch Michail Prochorow schaffen - was allerdings kein Indiz für eine Spaltung der Machtelite ist. Höchstwahrscheinlich agieren beide mit Billigung von Putin. Immerhin ist der mit Kudrin befreundet, und auch Prochorow zählt zu Putins Bekanntenkreis. Prinzipiell geht es darum, wer die Protestbewegung voranträgt: radikal gestimmte Internet-Aktivisten vom Schlage Alexej Nawalnys oder die „System-Nahen“ wie das Duo Kudrin-Prochorow.

Wie sich die Protestbewegung entwickeln wird, hängt von den Wahlen am 4. März ab. Wird erneut gefälscht, könnte es zu noch massiveren Protesten kommen. Sollten sie ehrlich ablaufen, müssten Putins Gegenkandidaten seinen Sieg akzeptieren. Umso mehr, als die meisten Demonstranten gegen „extreme Szenarien“ sind. In seiner Rede am 24. Dezember ließ sich Alexej Nawalny zu der Äußerung hinreißen: „Ich sehe hier genug Leute, um auf Anhieb den Kreml und das Weiße Haus zu stürmen. Aber wir sind eine friedliche Kraft und tun es nicht. Noch nicht.“ Im Sturm und Drang überschätzte Nawalny offenkundig die revolutionäre Stimmung der Menschen. Die Mittelschicht will von den Machthabern gehört werden, aber nicht auf die Barrikaden gehen. Begeht die Regierung also keine groben Fehler, und stimmt die Konjunktur für Russland weiterhin, ist die entscheidende Auseinandersetzung zwischen der Machtriege und ihren Opponenten erst in fünf Jahren zu erwarten – bei den nächsten Duma-Wahlen. Bis dahin scheint Putins Macht unerschütterlich.

Wiktor Djatlikowitsch ist Ressortleiter Politik beim Wochenmagazin Russkij Reportjor.

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