Regisseur Gryazew: „Ich habe drei unterschiedliche Leben“

Andrei Gryasew. Foto: http://kinote.info/

Andrei Gryasew. Foto: http://kinote.info/

„Zavtra“ (Morgen), der Dokumentarfilm des international bekannten russischen Eiskunstläufers Andrei Gryasew feierte genau an dessen 30. Geburtstag seine Weltpremiere beim „Internationalen Forum“ der diesjährigen Berlinale Filmfestspiele im Februar in Berlin.

„Zavtra" (Morgen), der russische Dokumentarfilm des international bekannten Eiskunstläufers Andrei Gryasew feierte genau an dessen 30. Geburtstag seine Weltpremiere beim „Internationalen Forum" der Berlinale. „Zavtra" schildert das abenteuerliche Leben einer russischen Künstler-Gruppe, die sich „Wojna" (Krieg) nennt. Offensichtlich ist damit „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" gemeint - frei nach Georg Büchners Flugschrift, die mit dieser Parole die hessische Landbevölkerung zur Revolution gegen die Unterdrückung aufrufen sollte. Der Kern der Gruppe besteht aus Natalia Sokol, Oleg Vorotnikow, dem gemeinsamen zweijährigen Sohn Kasper und einer wechselnden Reihe von etwa 200 anderen Aktivisten.

Die anarchistischen Künstler verstehen sich als Opposition zu den heute herrschenden Verhältnissen in Russland. Ihre Kunst im öffentlichen Raum entsteht aus der Aktion: Zu ihren spontan wirkenden, aber von langer Hand geplanten „Happenings" gehört die inzwischen 500.000-fach im Netz angeklickte Szene, in der ein Polizeifahrzeug von den Rädern auf das Dach gekippt wird, eine Totenkopf-Projektion auf das „Weiße Haus" in Moskau (Regierungsgebäude der Russischen Föderation) oder der Clip, in dem Leonid Nikolajew mit einem blauen Eimer auf dem Kopf auf ein Polizei-Auto springt, um dessen Blaulicht zu persiflieren. Eine Aktion, die es bis in die Kulturmagazine des deutschen Fernsehens gebracht hat.

Zavtra Trailer.

Wie entstand der erste Kontakt zur „Wojna"-Truppe und was war ausschlaggebend für das gemeinsame Filmprojekt?


Ich hatte diese berühmte Szene im Internet gesehen, wo jemand von „Wojna" auf eines dieser Geheimpolizei-Autos springt, die immer den Moskauer Verkehr paralysieren. Daraufhin habe ich mich den „Wojna"-Leuten gleich bei unserem ersten Treffen als Regisseur vorgestellt und gesagt, dass man das viel besser drehen könnte. Dann habe ich ihnen zwei Stapel DVD hingelegt, zehn von meinem ersten Film und zehn von meinem zweiten.

Sicherlich hat Ihnen doch auch Ihre Karriere als berühmter Eiskunstläufer die Annäherung an die „Wojna"-Truppe erleichtert. Könnten Sie bitte einmal schildern wie Sie vom Eis- zum Filmkünstler wurden?


Ja, ich habe mit vier Jahren das Eiskunstlaufen angefangen, bin mit zwölf zum Eistanz gewechselt, mit 18 war ich bei Europa- und Weltmeisterschaften, habe mit 21 den Sport im eigentlichen Sinne verlassen und bin dann noch sechs Jahre mit Igor Bobrins „Theater auf dem Eis" um die ganze Welt gereist. Heute trainiere ich Leute im Eiskunstlauf. Filmemacher bin ich erst seit drei Jahren. Und so kommt es, dass der Eiskunstlauf immer noch mein Broterwerb ist.

Aber was bringt einen Eiskunstläufer, der seine Arbeit nur mit höchster Präzision leisten kann, dazu, mit einer „Anarchisten-Truppe" ein solches Projekt auf die Beine zu stellen?


Ich respektiere alle Menschen. Gerade wenn sie für mich unverständlich sind, interessieren sie mich am meisten. Und, ich versuche immer, sie zu verstehen. Ich habe eigentlich drei unterschiedliche Leben: Die Welt des Eiskunstlaufs und die Welt des Films. Beide wecken meine Neugier, und das bedingt, dass ich mich in meinem dritten Leben ganz auf das der anderen einlasse, zumindest eine Zeit lang. Mit „Wojna" waren das anderthalb Jahre. Um Anarchisten zu ergründen, muss man erst einmal mit ihnen zusammenleben und in gewisser Weise auch selbst einer werden.

Dürfen Sie das denn? Als Künstler, der an Weltmeisterschaften teilgenommen hat, sind Sie doch auch eingegliedert in ein bestimmtes System. Sie werden vom Staat unterstützt und es werden gewisse Erwartungen und Hoffnungen in Sie gesetzt. Aber mit dem Film-Dreh haben Sie sich ja mit einer Gruppe zusammengetan, die beim Staat nun nicht gerade beliebt ist.


Ich bin niemandem zu irgendetwas verpflichtet. Außerdem war eine der Bedingungen für den Film, dass er vollkommen ohne Budget entstehen sollte: Entsprechend der Philosophie von „Wojna" musste ich alles allein machen, um zu zeigen, dass auch ein einzelner Mensch viel erreichen kann.

Die „Wojna"-Künstler bereiten Putin und seiner Entourage aber dennoch ganz schön Kopfschmerzen, wenn sie so offen deren autoritäres Vorgehen kritisieren. Auch wenn ihre Aktionen meistens sehr witzig und intelligent sind, so provozieren sie doch auch genauso oft durch ihre absolute Radikalität. Meinen Sie nicht doch, dass dieser Film auch Ihnen persönlich schaden wird?


Klar waren die an mir dran. Ich wurde verfolgt, ich wurde abgehört. Aber manchmal habe ich mich verstecken können und bin dann hinter denen her und habe sie auch gefilmt. Aber auch wenn die mich gekriegt hätten, mein Gewissen ist rein. Natürlich wäre es möglich, wenn ich jetzt einen weiteren Dokumentarfilm über die Opposition drehe, dass mir dann gesagt wird: „Lass das mal bleiben!" Aber ich habe jetzt sowieso mehr Lust als nächstes einen Spielfilm zu drehen.

Kommen wir nochmal zurück zur Herstellung Ihres Films: Sie haben also Ihre eigenen Ersparnisse investiert?


Ja. Der Film hat aber nur 2000 Dollar gekostet, und die wurden ausschließlich in Bahnfahrten investiert.

Wie sind Sie denn an eine Kamera, weitere Produktionsmittel und an HDCAM-Material gekommen? Konnten Sie das alles noch von der Filmhochschule ausleihen?


Die Kamera und die weiteren Arbeitsgeräte hatte ich noch von meinen zwei anderen Filmen. Und an der Post-Produktion waren außer mir noch zwei Leute beteiligt, nämlich Julia Galotschkina für die Farbkorrektur und der in Russland durchaus bekannte Ton-Mann Aleksandr Dudarew. Beide waren so begeistert von dem Projekt, dass sie bereit waren, ohne Honorar zu arbeiten. Also nochmal, da ich das Projekt absolut allein finanziert habe, war ich auch nur meinem Gewissen verpflichtet und da spielt der Staat tatsächlich keine Rolle.

Ist Ihnen denn nicht irgendwann der Mut abhanden gekommen, als Sie sahen wie elend lange die vielen Leute von „Wojna" das Umwerfen von Autos diskutierten und ausprobierten?


Nein! Denn in der Realität waren da immer mehrere Aktionen, die gleichzeitig geprobt wurden. Im Prinzip kann man das einen pseudo-dokumentarischen Film nennen. Das Leben darin ist natürlich konstruiert und nicht Eins zu Eins abgelichtet worden. Aber auch die „Wojna"-Leute meinten: „So ist das alles ja gar nicht wirklich passiert!" Ich erklärte ihnen, dass es meine Absicht war so vorzugehen, damit das gedrehte Material für die Strafverfolgungsbehörden überhaupt nicht relevant sein kann. Denn natürlich hatte ich nicht vor, „Wojna" in irgendeiner Weise auszuliefern. Als Oleg Vorotnikow und Leonid Nikolajew ins Gefängnis kamen, hat der Film auch dazu beigetragen, dass ihre Aktionen als Kunst eingestuft werden konnten und die beiden nach einiger Zeit wieder freikamen.

Sie gehen ziemlich geschickt vor, wenn Sie Ihrem Film auch einige versöhnliche Erholungspausen gönnen, indem Sie den zweijährigen angriffslustigen Sohn Kasper zeigen, wie er die Erwachsenen, die auf Iso-Matten in der Wohngemeinschaft seiner Eltern übernachten, mit Wasser aus seiner kleinen Gießkanne aufwecken will oder wenn er das Umkippen der Autos an einem Stuhl ausprobiert und letztendlich seinen Fußball unter das Polizei-Auto schießt, um damit den „Wojna"-Strategen einen Pseudo-Grund für das Umkippen zu geben. Haben Sie oder die Haupt-Akteure sich an die deutsche 68er-Bewegung erinnert, in der ja eine antiautoritäre Kindererziehung gefordert wurde?

Das kann ich nicht genau sagen. Aber immerhin haben Kaspers Eltern Natalia Sokol und Oleg Vorotnikow ihn so erzogen, dass er bei der „7. Kunst-Biennale" in Berlin vom 28. April bis 1. Juli 2012 neben ihnen als gleichwertiger Kurator akzeptiert werden wird.

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