Mutbürgerliche Poeten

Das Fernsehformat „Bürger Poet“ hat Hunderttausende Anhänger - weil es das Regime desakralisiert. Doch nach der Präsidentschaftswahl ist erst einmal Schluss.

Russland war ein anderes Land, als vor einem Jahr die erste Folge von „Bürger Poet“ auf dem unabhängigen, vor allem im Internet zu empfangenden Fernsehkanal Doschd (Regen) ausgestrahlt wurde. Da stand der Schauspieler Michail Jefremow: mit verschränkten Armen, gekleidet im Stil des 19. Jahrhunderts, auf der Nase einen Zwicker, im Hintergrund ein zerknittertes Plakat des Dichters Nikolaj Nekrassow, den er dieses Mal imitierte.

In witzigen Reimen stimmt er ein Loblied auf Natalja Wassiljewa an, Pressesprecherin jenes Moskauer Gerichts, das Michail Chodorkowskij gerade zum zweiten Mal verurteilt hatte. Die Frau hatte in einem Interview erklärt, dass auf den Richter Druck ausgeübt worden war: „Wir Männer haben Ehre und Gewissen versoffen / das russische Weib Natascha Wassiljewa hat alles erzählt, sie lässt uns hoffen.“


Es war die Geburtsstunde von „Graschdanin Poet“ (Bürger Poet), das Video wurde innerhalb weniger Stunden zum begehrtesten Link des russischen Internets. Was wohl auch an seinen drei Machern liegt: Der 44-jährige Dmitrij Bykow, Schriftsteller und bissig-humorvollster Kolumnist der Moskauer Publizistik, schreibt die Verse. Vorgetragen werden sie von Schauspieler Michail Jefremow, 48, in Moskauer Kreisen als eingefleischter Oppositioneller bekannt – und als einer, der sich für keinen Skandal zu schade ist. Produzent ist der 54-jährige Andrej Wassiljew, langjähriger Chefredakteur der unabhängigen Tageszeitung Kommersant. 

Die drei ernteten fast ausschließlich Beifall: Bissige Satire über das Putin-Regime hatten die Russen schmerzlich vermisst. Für den bekannten Journalisten Jurij Saprykin war „Bürger Poet“ der letzte Zufluchtsort der Opposition: Entmachtet von den herrschenden Eliten konnte sie nun immerhin über sie lachen. Andere sahen in der Sendung eine Fortsetzung der Serie „Puppen“. Im Stil von „Hurra Deutschland“ hatte diese seit 1994 Politiker und Oligarchen verlacht. 2002, unter Präsident Putin, wurde sie abgesetzt. 


Dem bewährten Konzept bleiben Bykow, Jefremow und Wassiljew nun seit 48 Folgen treu: Jefremow imitiert einen Dichter - von Tschukowskij bis Edgar Allan Poe und Bykow verarbeitet in übersprudelnder Wortakrobatik 
aktuelle Ereignisse, ob das Gurkenimportverbot aus der EU oder die Weigerung Putins, an Fernsehdebatten mit Präsidentschaftskandidaten teilzunehmen.


Nicht treu blieb dem Format allerdings der Sender Doschd. Schon nach der sechsten Folge – einer Polemik Putins gegen Medwedjew – gingen die Ansichten von Künstlern und Sendeverantwortlichen darüber auseinander, was Satire darf. Der Streit machte die Sendung nur noch populärer: Der Radiosender Echo 
Moskwy und das Online-Portal F5 übernahmen das Projekt, und jede neue Folge wurde wöchentlich von Hunderttausenden gesehen.


Sein oder Schein

Durch ihre satirischen Eskapaden witzelten sich die Bürgerpoeten in den YouTube-Klickparaden nach oben. Später tourten sie durchs Land - auch wenn ihre Gagen mit bis zu 35 000 Euro pro Auftritt nicht gerade bescheiden kalkuliert waren. Groß war die Entrüstung, als die drei Kreativköpfe auf der Firmenfeier des Oligarchen Wiktor Wechselberg auftraten eines Mannes, der wie kein anderer dem von ihnen verspotteten Regime nahe steht.

Nach einigen Auftritten in Moskau ging das Gespann letzten Herbst auf Tournee durch die Provinz und musste herbe Kritik einstecken, als bekannt wurde, dass es von Oligarch und Präsidentenherausforderer Michail Prochorow gesponsert wird. 
Bykow reagierte offensiv in einem Zeitungsbeitrag: „Wer hat das in Auftrag gegeben? Wer bezahlt euch? Handelt ihr vielleicht im Auftrag des Kreml?“, bekomme er überall zu hören. Für ihn seien das Symptome einer kranken Gesellschaft, die Putins Regime hervorgebracht habe. „‚Wer hat euch das erlaubt?‘, fragt man uns. Wir antworten: ‚Niemand, wir haben nicht gefragt!‘“ Und genau, um diesen von Passivität und Zynismus geprägten Geisteszustand zu brechen, zögen sie durchs Land.


Erfahren die Menschen von Jefremow und Bykow aber wirklich etwas Neues? Natürlich nicht: Die Autoren umspielen nur Fakten, die jenen, die es wissen wollen, hinlänglich bekannt sind, ob die unrechtmäßige Verurteilung von Michail Chodorkowskij, die Meinungsverschiedenheiten zwischen Putin und Medwedjew oder die mögliche Ausweitung des arabischen Frühlings auf Russland.


Das Ende der Ikone Putin

Vielmehr spricht „Bürger Poet“ jenen Menschen aus der Seele, die derzeit auf die Straße gehen. Zwölf lange Jahre haben die Staatsmedien ihnen Wladimir Putin geradezu als Ikone vorgeführt. Bykows Gedichte wirken da wie Gegengift. Folge für Folge arbeiten sie von Neuem an einer Desakralisierung des Regimes - holen Putin vom Thron, aber auch Medwedjew, Geheimdienstler, Staatsanwälte und Richter. Ja, man dürfe, man müsse über die beiden höchsten Amtsträger des Landes lachen, spricht der Bürger-Poet. In diesem Sinne haben Bykow, Jefremow und Wassiljew den Weg bereitet für die Proteste der letzten Monate. Aus dem Internet, dem Radio, aus den Theatern des Landes tragen die Menschen nun in Form von Plakaten jene Botschaft hinaus auf die Straße: Niemand ist unantastbar, auch nicht Wladimir Putin. Und es ist nur folgerichtig, dass Bykow zu den Demonstrationen kommt und der Poet mit dem Bürger am 5. März, einen Tag nach den Präsidentschaftswahlen, zum letzten Mal in Moskau auftritt. „Danach wird es eine andere Realität geben, und dafür brauchen wir ein neues Projekt“, hat Bykow gesagt.

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