NATO-Russland-Gipfel: Moskau fürchtet neues Wettrüsten

Russischer Außenminister Sergej Lawrow beim NATO-Russland-Gipfel. Foto: AP

Russischer Außenminister Sergej Lawrow beim NATO-Russland-Gipfel. Foto: AP

Vor dem NATO-Russland-Gipfel, der Ende Mai in Chicago stattfinden wird, scheinen die Fronten verhärtet – Moskau befürchtet ein neues Wettrüsten, sollte sich die NATO-Führung in entscheidenden Fragen nicht auf Russland zubewegen. Doch danach sieht es derzeit nicht aus.

Jeden Tag twittert der für die Modernisierung der Rüstungsindustrie verantwortliche russische Vizepremier Dmitrij Rogosin Infos über die Fortschritte seiner Arbeit. Dabei geht es um milliardenschwere Programme zur Ausstattung der Armee mit neuen Waffen. Die immense Größenordnung dieser Summen, für die noch zukünftige Generationen werden aufkommen müssen, erweckt jedoch in Russland kaum öffentlich vernehmbaren Unmut - soziologische Erhebungen zeigen, dass die Russen die Pläne der Regierung mehrheitlich befürworten. Die öffentliche Meinung in Russland steht der NATO skeptisch gegenüber und lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass die Allianz nicht mit offenen Karten spielt und die nationale Sicherheit des Landes bedroht.

Jede Menge Zündstoff

Diese Ängste sind nicht unbegründet. Die Strategien der NATO, Territorien in unmittelbarer Nähe zur russischen Grenze einzunehmen und für ihre Interessen zu nutzen, kann Moskau nicht unbeteiligt zur Kenntnis nehmen. In Polen, Bulgarien und Rumänien werden neue Militärbasen eingerichtet, die NATO unternimmt seit dem Beitritt Estlands, Lettlands und Litauens zum Bündnis eine Luftraumüberwachung der baltischen Staaten. Die Gesamtheit der jährlichen Militärausgaben der NATO-Mitgliedsstaaten übersteigt das russische Verteidigungsbudget um ein Vielfaches. Die europäischen Länder des nordamerikanischen Bündnisses sind Russland, was ihre Ausrüstung mit konventionellen Waffen betrifft, deutlich überlegen. Amerikanische Militärs arbeiten mit großem Einsatz an der Entwicklung neuer Waffentypen, unter anderem auch Angriffswaffen, die mit der Zeit auch in Europa stationiert werden und das militärische Gleichgewicht in dieser Region verschieben könnten.

Ungeachtet der Leistungen, mit denen Russland die NATO in Afghanistan unterstützt, errichten amerikanische Militäreinheiten ohne vorhergehende Absprachen mit Moskau große Militärbasen auf afghanischem Territorium. Diese Objekte haben nach Einschätzung von Experten strategische Bedeutung für die Kontrolle über die Territorien Zentralasiens. Die vom Pentagon aufgebauten Basen werden zudem auch nach dem Abzug fast sämtlicher NATO-Truppen in Afghanistan bleiben – was Russland ebenfalls ein Dorn im Auge ist.

Den meisten Zündstoff für Konflikte zwischen Russland und der NATO jedoch liefert nach wie vor das geplante System der europäischen Raketenabwehr. Die Weigerung der USA und der NATO-Führung, Russland rechtsverbindliche Zusagen dahingehend zu machen, dass der Raketenschild nicht gegen das russische Atomwaffenpotential gerichtet wird, zwingt Moskau im Gegenzug zu mehr Zurückhaltung in seiner Verhandlungsbereitschaft. Das Äußerste, was Washington im Hinblick auf die Forderungen Russlands zu bieten bereit ist, sind „im politischen Rahmen eingeräumte Zusagen“. Moskau allerdings können solche politischen Versprechungen nicht zufriedenstellen. Schließlich zählen in militärischen Zusammenhängen nicht die Absichten der potentiellen Konfliktlager, sondern das real existierende Verteidigungspotential.

Moskau hat sich immer Versuchen von außen widersetzt, Russland in einen neuen Rüstungswettlauf zu zwingen. Was den Raketenschild betrifft, hat die russische Führung konsequenterweise für den sogenannten „sektoralen Ansatz“ plädiert, also für eine Aufteilung der Zuständigkeitsbereiche zwischen der Allianz und den russischen Streitkräften und eine vereinte Abwehr feindlicher Waffen. Ein solches System ließe die Militärausgaben aller Beteiligten an diesem Projekt um viele Milliarden Euro schrumpfen. Unter dem Druck Washingtons jedoch lehnte die NATO-Führung die russischen Vorschläge ab.

Die Gründe für diese Entscheidung gehen zurück auf einen NATO-Vertrag aus der Zeit des kalten Krieges. So schreibt Artikel 5 dieses Vertrages fest, dass die Allianz die Sicherheit ihrer Mitgliedsstaaten aus eigenen Kräften und nicht unter Rückgriff auf die Potentiale Russlands zu gewährleisten habe. Niemand aus der politischen Führung des Bündnisses ist zu einer Änderung dieses Artikels bereit, was einen erneuten Rüstungswettlauf verhindern würde.

Das Gegenteil ist der Fall. Viele NATO-Mitgliedsstaaten arbeiten an einer neuen Ausrüstung ihrer Streitkräfte. Behauptungen, es handele sich hierbei um planmäßige Maßnahmen, von denen keinerlei Bedrohung ausgehe, sind für Moskau wenig überzeugend. Russland sieht sich dazu gezwungen, etwas zu unternehmen, um unter den neuen Voraussetzungen weiterhin nationale Sicherheit gewährleisten zu können und in den Augen seiner Nachbarn nicht zu einem „Koloss auf tönernen Füßen“ zu mutieren. Die Bereitstellung erheblicher Finanzmittel für die Modernisierung des Rüstungssektors durch die russische Regierung ist eine Antwort auf die europäischen militärstrategischen Initiativen.

Bindendes Völkerrecht

Ist unter diesen Voraussetzungen noch ein gangbarer Weg auszumachen, den begonnenen Rüstungswettlauf zu stoppen? Ohne Zweifel. Als ersten Schritt hat Moskau auf dem Außenministertreffen in Brüssel den Ländern der Allianz vorgeschlagen, in der Abschlussresolution des bevorstehenden NATO-Gipfels in Chicago die „Verpflichtung der NATO zur Einhaltung des Völkerrechtes“ festzuschreiben. Eine solche Anerkennung würde bedeuten, dass die Führung der Allianz auf eigenmächtige militärische Aktionen verzichtet, sofern sie nicht durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrates legitimiert sind.

Nicht auszuschließen ist allerdings, dass es in Chicago nicht gelingen wird, die Teilnehmer des Bündnisses schriftlich auf diese Anerkennung völkerrechtlicher Mechanismen der Krisenbewältigung festzulegen.

Eine solche Weigerung würde die NATO in den Augen Russlands zum zentralen Bedrohungsfaktor der internationalen Stabilität werden lassen. Sollte die Entwicklung einen solchen Verlauf nehmen, wird Russland über die Einrichtung eigener militärischer Verteidigungssysteme nachdenken müssen, die das Potential eines Gegengewichtes zur Allianz haben. In diesem Fall werden die Europäer keinerlei Chancen haben, einen erneuten Rüstungswettlauf abzuwenden. Die Programme für eine Zusammenarbeit zwischen Moskau und der NATO würden damit gegenstandslos.

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Diese Gefahr ist durchaus real. Jüngst rief die Entscheidung der russischen Regierung, in Uljanowsk ein Transitzentrum für die Belieferung der in Afghanistan stationierten Friedenstruppen mit nicht-militärischen Gütern zu eröffnen, lebhafte Proteste der Bevölkerung hervor. Die Weigerung der Allianz, die bestehende Friedensordnung anzuerkennen, der demonstrativ vorgetragene Unwille der NATO-Führung, die geopolitischen Interessen Russlands zu respektieren, machen jegliche gemeinsame Vorhaben, die darauf gerichtet sind, Bedrohungen durch Dritte vereint entgegenzuwirken, unmöglich. Eines ist sicher: Sie werden eine Rüstungsspirale in Gang setzen, die – wenn man ihren Worten Glauben schenken darf – viele europäische Länder gerne vermeiden wollen. 

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