Vom Beinahe-Vizepremier zum Oppositionellen

Wladimir Ryschkow ist mit 45 Jahren einer der dienstältesten Oppositionellen. Seine größte Schwäche ist die Vorsicht - aber sie könnte ihm nun wieder die Tür in die Politik öffnen.

Wladimir Ryschkow. 

Foto: Alexander Jermilov

„Neutral und ungefährlich“. So wird der Politiker und Oppositionelle Wladimir Ryschkow von seinem Konkurrenten Boris Nemzow beschrieben. In dieser kränkenden Charakterisierung mag ein Körnchen Wahrheit stecken. Doch die Neutralität Ryschkows, der eher einem jungen Professor als einem Volkstribun gleicht, trägt Früchte. Dank der in Aussicht gestellten politischen Reform wird seine 2007 aufgelöste Republikanische Partei demnächst wieder registriert. Ryschkow könnte bald in die parlamentarische Politik zurückkehren. 

Auf einer der jüngsten Protestaktionen sah Ryschkow allerdings überhaupt nicht nach Duma aus: In Joppe und Ohrenklappenmütze auf der Tribüne stehend, hat er die Kundgebung geleitet – fast wie die Demokraten der Perestroika. Derartige Großveranstaltungen sind für ihn nichts Ungewöhnliches, gern erzählt er von den ersten demokratischen Meetings, die er in der Altai-Region organisierte. Von dort, aus Ostsibirien, stammt Ryschkow.

Die gesetzte Redeweise und seine politische Erfahrung hat der studierte Historiker auf dem Weg vom Straßendemokraten der Perestroika zum Abgeordneten der Staatsduma und stellvertretenden
Fraktionsvorsitzenden der Jelzin-Partei Unser Haus Russland erworben.

Im Dezember 1993, mit 27 Jahren, zog Ryschkow in die Duma ein, 1997

wurde er stellvertretender Parlamentssprecher, 1998 ernannte Jelzin den jungen Politiker zum Vizepremier für soziale Fragen. Doch Ryschkow weigerte sich, den Posten anzunehmen, es fehle ihm an Erfahrung.

Seine politischen Gegner machen ihm bis heute die damalige Kooperation mit der Regierung Jelzin und später Putin zum Vorwurf. Aber er wehrt ab: „Ja, wir haben eine Menge Fehler gemacht, dabei aber nach mehr Markt und Demokratie gestrebt. Das Parlament war zu meiner Zeit ein Ort für Diskussionen!“ Ryschkow betont, sofort nach der Verhaftung

des Medienmoguls Wladimir Gussinski und einer Wiederverstaatlichung der Medien auf Oppositionskurs zu dem im Jahr 2000 gewählten Putin gegangen zu sein. Er nennt sich selbst den „ältesten Oppositionellen“: Wesentlich früher als die beiden anderen Oppositionsführer Nemzow und Michail Kasjanow begann er, Putin zu kritisieren. Als dieser begonnen habe, die direkt gewählten Gouverneure aus dem Amt zu jagen, sei ihm klar geworden, dass „dieser Mann die letzten Keime der Demokratie vernichtet hat“.

Bis 2007 blieb Ryschkow Dumamitglied, dann wurde seine Republikanische Partei aufgelöst. Seitdem gehört er zur außerparlamentarischen Opposition, lehrt an der Moskauer Hochschule für Ökonomie, moderiert eine Sendung auf Echo Moskaus, schreibt Artikel für Zeitungen.

Ryschkow spricht am liebsten von Alexander II., jenem Zaren, der die

Leibeigenschaft abschaffte: „Er hat eine fantastische Bildungsreform initiiert, das Gymnasium eingeführt und eine moderne Armee. Zugleich entwickelte sich die Wirtschaft stürmisch. Jetzt braucht Russland eine solche Führungspersönlichkeit wie auch seine Mannschaft.“

Russland? Kanada mal sieben

Putin sieht er nicht in der Rolle Alexanders: „Er hat das Land zehn Jahre am Gängelband geführt. Jetzt geht es darum, politische Institutionen zu schaffen. Russland kann eines der reichsten Länder der Welt werden: Kanada, multipliziert mit sieben.“

Mit Putin hat Ryschkow ohnehin ein persönliches Hühnchen zu rupfen: Bei einem Fernsehauftritt im Dezember 2010 hatte jener die Politiker Nemzow, Wladimir Milow und Ryschkow beschuldigt, zusammen mit dem flüchtigen Oligarchen Boris Beresowski „in den 90ern herumgeräubert“ und „Milliarden beiseitegeschafft“ zu haben. Diese Vorwürfe entlocken Ryschkow ein spöttisches Lachen: „Was für Milliarden hätte ich als Abgeordneter beiseiteschaffen können? Wenn man bedenkt, wer wie ‚herumgeräubert‘ hat, fällt der Vergleich nicht zu seinen Gunsten aus. Putin war Vizebürgermeister von Petersburg, damals bekannt als Banditenstadt. Die Petersburger wissen, wie er herumgeräubert hat.“

Verhandlungen mit Schurken

Ryschkow ist heute 45, wirkt aber jungenhaft. Seine größte Schwäche ist die ihm nachgesagte Unentschlossenheit. Als einer der Organisatoren der Demonstrationen wurde er nach Putins Wiederwahl und den abebbenden Protesten gefragt: „Hätte mehr Risiko zu mehr Erfolg geführt?“

„Putin und Medwedjew wurden unter dem Druck der Politiker und Bürger zu Zugeständnissen gezwungen“, antwortet Ryschkow. Beispiele dafür seien die Gesetze über die Liberalisierung des politischen Systems, die im Mai verabschiedet werden sollen. Sie sehen vor, die Gründung neuer Parteien zu vereinfachen und die Gouverneure wieder vom Volk wählen zu lassen. „Ich weiß, dass ich als unentschlossen gelte. Aber man muss vorsichtig sein, manchmal sogar unentschlossen, um keinen Flurschaden anzurichten“, sagt er seinen Kritikern. „Wäre ich ein entschlossener Politiker, hätte ich zum Sturm auf den Kreml aufgerufen.“ Ryschkow verspricht, auch an den kommenden Protesten teilzunehmen, egal wie wenige kommen. Aber als verantwortungsbewusster Politiker glaube er, dass nur ein Dialog zu Veränderungen führt: „Ich setze mich an den Verhandlungstisch – auch wenn ich vor mir Schurken haben werde.“

Trotz seiner harschen Worte gegenüber dem Kreml ruft Ryschkow bei Putin weniger Argwohn hervor als Nemzow und Kasjanow. Das mag auch mit Ryschkows klar ablehnender Haltung gegenüber den Nationalisten zu tun haben, die ebenfalls auf den jüngsten Demonstrationen aufgetreten waren. Mit linken Politikern arbeitet er dagegen zusammen, wenn auch unter Kopfschmerzen: Mit Sergej Udalzow, dem Führer der Linken Front, sitzt er in einer Arbeitsgruppe zur Reform des politischen Systems, die der stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung, Wjatscheslaw Wolodin, leitet.

Alexander Braterskij schreibt für den Rolling Stone und die Moscow Times.

Biografie

Beruf: Historiker

Berufung: Politiker

Alter: 45

Wladimir Ryschkow wird 1966 in der Stadt Rubzowsk im Altai geboren. Nach Armeedienst und Geschichtsstudium avanciert er in seiner Region zu einem der bekanntesten Politiker. 1991 ist er Vizegouverneur des Altai, 1993 lässt er sich zum ersten Mal als jüngster Parlamentarier in die Staatsduma wählen. Über vier Legislaturperioden soll er Mitglied des Parlaments bleiben. Ryschkow setzt sich hier vor allem für die Regionalpolitik ein. In den 90er-Jahren ist er führendes Mitglied der Partei Unser Haus Russland, die Präsident Boris Jelzin stützt. Bald nach Jelzins Rücktritt wird Ryschkow parteilos, 2003 lässt er sich von seinem Wahlkreis im Altai als unabhängiger Kandidat aufstellen. 2007 scheidet Ryschkow aus der parlamentarischen Politik aus und gehört seitdem verschiedenen oppositionellen Bündnissen an. Zuletzt war er einer der 
Organisatoren der Demonstrationen „Für ehrliche Wahlen“.

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