Deutschbaltische Kultur: eigenständig und multikulturell

Die Geschichte der Deutschen im Baltikum beginnt im 12. Jahrhundert und dauert fast bis zum Zweiten Weltkrieg. Wie war das möglich und wie ging es den Deutschbalten damals? Wir machen einen kleinen Rundgang in die Vergangenheit.

Zwischen Deutschland und Russland

Die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland sind als einzige Nachfolgestaaten der UdSSR heute Mitgliedsländer der EU. Estland hat sogar den Euro als Währung eingeführt. Oft spricht man vom „Baltikum“, wenn man die drei Länder meint. Doch "Baltikum" ist eine geographische Bezeichnung, während es sich bei den baltischen Staaten um den politischen Sammelbegriff für drei durchaus eigenständige Kulturen handelt. Da ist allein schon die Sprache. Lettisch und Litauisch gehören zu den baltischen Sprachen, wohingegen Estnisch der finno-ugrischen Sprachfamilie angehört. Litauen ist katholisch geprägt und gehörte lange zu Polen.

In Estland und Lettland aber lebte über Jahrhunderte eine deutsche Oberschicht, auch wenn die Länder politisch vom 18. Jahrhundert bis 1917 zum Russischen Reich gehörten. Die ersten Deutschen kamen im Mittelalter mit der Ostkolonisation durch den Deutschen Orden. Sie waren Kaufleute, Geistliche, Ritter und siedelten sich seit dem 13. Jahrhundert im ursprünglich „Livland“ genannten Gebiet an, nahmen Land in Besitz und christianisierten die Esten und Letten. Der Deutsche Orden, der die Eroberung leitete, verlor bald an Macht und löste sich auf, aber die Deutschbalten blieben und entwickelten eine eigene Kultur, die auch baltische, skandinavische und russische Einflüsse aufnahm. Noch heute trinken Deutschbalten gerne Wodka und essen dazu als „Sakuska“ (Imbiss zum Schnaps) russische „Piroggen“ (gefüllte Teigtaschen). Als typisch für die deutschbaltische Kultur, die auch heute noch gepflegt wird, gelten ferner Gastlichkeit, Familiensinn und der enge landsmannschaftliche Zusammenhalt. Aber auch das „Pliggern“, das gegenseitige ironische Hochnehmen, ist nach wie vor sehr beliebt.

Im 18. Jahrhundert kamen Livland, Estland und Kurland als „Ostseeprovinzen“ an Russland. Der deutsche Adel gehörte nun zur Oberschicht des Russischen Reiches, ihm standen alle Türen offen, und deutsche Barone nahmen bis zur Oktoberrevolution höchste

Positionen in Staat und Militär ein. Aus der Sicht der Zeitgenossen war das Zusammenleben zwischen balten und Russen nicht immer frei von Spannungen. Aus heutiger Sicht kann es eher als Beispiel für die erfolgreiche Integration einer Minderheit gelten. Immer wieder kamen Akademiker, Beamte, Pastoren und Kaufleute aus deutschen Staaten ins Baltikum und siedelten sich dort an, andererseits gingen junge Deutschbalten zum Studium ins „(Deutsche) Reich“. Für die Esten und Letten war die deutsche Dominanz ein Ärgernis. Denn im 19. Jahrhundert entstand bei diesen Völkern, wie auch anderswo in Europa ein Nationalbewusstsein, an dessen Wiege nicht selten deutsche Intellektuelle standen. Esten und Letten revoltierten immer wieder gegen die fremden Herren, und im Zuge der russischen Oktoberrevolution wurden Estland und Lettland (bestehend aus den historischen Provinzen Livland und Kurland) unabhängige Staaten.

Viele Deutschbalten verließen ihre Heimat und wurden Bürger des Deutschen Reiches. Die von der indigenen Bevölkerung getragenen

 Regierungen verabschiedeten eine Bodenreform, auf deren Grundlage das Land der - auch deutschen - Gutsbesitzer weitgehend enteignet und an die Bauern verteilt wurde. Dieser Rechtsakt wurde von den ausharrenden Deutschbalten wohl oder übel akzeptiert. Die Geschichte der Deutschen im Baltikum endete 1939/40, als der Hitler-Stalin-Pakt das Baltikum dem sowjetischen Einflussbereich zuordnete. Die Nazi-Regierung gab die Parole „Heim ins Reich“ aus, und die überwiegende Mehrheit der Deutschbalten folgte dem Befehl. Heute fahren viele Bundesbürger mit baltischen Wurzeln in die Heimat ihrer Vorfahren, besuchen die Häuser und Höfe ihrer Ahnen und nehmen Kontakt mit den heutigen Besitzern auf. Da sie sich nicht als Vertriebene verstehen und keine Ansprüche stellen, ist das Verhältnis zu den Esten und Letten heute recht entspannt.

Bekannte Deutschbalten

Fürst Michael Barclay de Tolly (*1761 †1818)

Aus offenen Quellen

Russischer Feldmarschall und Kriegsminister. Entstammte einer deutschbaltischen Familie schottischer Herkunft. Als Oberbefehlshaber aller russischen Truppen setzte er 1812 den Plan durch, Napoleon weit nach Russland hinein zu lassen, um ihn zu schwächen. Dafür wurde er von russischen Nationalisten harsch angegriffen, und nach der verlorenen Schlacht von Smolensk trat er von seinem Posten zurück. Barclay wurde von Tolstoi in „Krieg und Frieden“ sehr negativ, von Puschkin in dem Gedicht „Der Feldherr“ aber sehr positiv dargestellt.

August von Kotzebue (*1761 † 1819)

Aus offenen Quellen

Dichter, Theaterdirektor, Verleger, Jurist und russischer Diplomat. Ursprünglich aus Weimar stammend und mit Goethe befreundet kam er 1783 durch Graf Goertz, preußischer Botschafter am russischen Hof, nach Sankt Petersburg als Sekretär des Generalgouverneurs. 1783 Gerichtsbeamter in Reval berufen und Erhebung in den Adelsstand. 1785 wurde er Präsident des Magistrats des Gouvernements Estland. Mit über 200 Lustspielen und Dramen war er einer der erfolgreichsten und populärsten Theaterautoren seiner Zeit, Goethe inszenierte seine Stücke, Beethoven, Schubert und Salieri schrieben Musik dafür. Als Publizist kämpfte er sowohl gegen Napoleon als auch gegen die deutsche Nationalbewegung. 1819 wurde er von einem Burschenschafter in Mannheim ermordet.

Adam Johann v. Krusenstern (*1770 †1864)

Aus offenen Quellen

Deutsch-baltischer Admiral der russischen Flotte und Forschungsreisender. Leitete von 1803 bis 1806 die erste russische Weltumseglung, an der auch Otto von Kotzebue, zweiter Sohn August von Kotzebues, teilnahm. Nach ihm sind unter anderem eine der letzten Viermastbarken, die heute als Schulschiff in der russischen Marine dient, und ein Mondkrater benannt. Krusenstern ist in Russland sogar Kindern bekannt und wurde auch zur Zeiten der Sowjetunion als bedeutender Forscher und Seemann gewürdigt.

Karl Ernst von Baer (* 1792 † 1876)

Aus offenen Quellen

Stammte aus Reval (Tallinn) und genoss seine Ausbildung in Dorpat (Tartu), Wien, Berlin und Königsberg, wo er auch später wirkte. Er war Naturforscher, Zoologe, Anthropologe, Geograph, Forschungsreisender und Entdecker der menschlichen Eizelle. Er formulierte die „Baer-Regel“ der Ähnlichkeit aller Embryonen von Säugetieren sowie das nach ihm benannte Gesetz der unterschiedlichen Erosion von Flussufern durch die Corioliskraft. Baer gilt als einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts und wird wegen seiner wissenschaftlichen Leistungen auf zahlreichen Gebieten auch als der „Alexander von Humboldt des Nordens“ bezeichnet. Sein Portrait war bis zur Einführung des Euros auf der estnischen 2-Kronen-Note zu sehen.

Pjotr Nikolajewitsch Wrangel (*1878 †1928)

Aus offenen Quellen

Russischer Offizier und bedeutender Kommandeur der antikommunistischen „Weißen Armee“ im russischen Bürgerkrieg. Wrangel führte zuletzt die Truppen auf der Halbinsel Krim und ging nach der endgültigen Niederlage gegen die Rote Armee ins Ausland. Er war als „Schwarzer Baron“ ein wichtiges Feindbild der frühen sowjetischen Propaganda, in einem Lied aus dem Bürgerkrieg heißt es „Weiße Armee und Schwarzer Baron / bringen zurück uns den Zarenthron“.

 

 

 

…und Prominente mit deutschbaltischen Wurzeln

Heinz Erhardt (*1909 †1979)

Der populäre Komiker aus der Zeit des Wirtschaftswunders ist in Riga geboren und aufgewachsen. Dort lernte er Klavier und trat mit eigenen Kompositionen und lustigen Gedichten in Kaffeehäusern auf.


 

Otto Graf Lambsdorff (*1926 †2009)

Foto: AP

Der FDP-Politiker Wirtschaftsminister unter Helmut Schmidt und Helmut Kohl entstammt einer alten deutschbaltischen Familie, die bereits im Zarenreich höchste Positionen einnahm. So war unter anderem Wladimir Graf Lambsdorff von 1900 bis 1906 Außenminister des russischen Reiches.

 

Alexius II. (*1929 †2008)

Foto: TASS

Patriarch von Moskau und ganz Russland von 1990 bis 2008. Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche hieß mit bürgerlichem Namen Alexej Rüdiger und entstammt dem russifizierten Zweig einer deutsch-kurländischen Familie.

 

 

Lena Meyer-Landrut (*1991)

Foto: AP

Die Grand-Prix-Gewinnerin von 2010 stammt väterlicherseits aus einer deutschbaltischen Industriellenfamilie.

 

 

Chronik

1180 Beginn der Missionierung des baltischen Stammes der Liven durch deutsche Mönche. Diese Maßnahme soll auch Übergriffe heidnischer Krieger auf deutsche Ostseekaufleute verhindern.

1199 Der Bremer Domherr Albert von Buxhoeveden wird zum Bischof von Livland geweiht. Das historische Alt-Livland umfasst das Gebiet der späteren baltischen Provinzen Livland, Estland und Kurland, die wiederum heute in den Ländern Lettland und Estland aufgegangen sind.

1201 Gründung der Stadt Riga (heute Hauptstatt Lettlands) durch Bischof Albert.

1202 Gründung des Schwertbrüderordens mit dem Ziel der Missionierung Livlands. Er geht später im Deutschen Orden auf. 

1204 Papst Innozenz III. stellt die Kreuzfahrt nach Livland der Kreuzfahrt nach dem Heiligen Land gleich. Deutsche Ritter, vor allem aus Niedersachsen und Westfalen, folgen dem Aufruf und erhalten Lehen in den eroberten Gebieten. Altlivland wird eine Föderation geistlicher Territorien, dessen Oberherren die Ordensträger und die Bischöfe sind.

1219 König Waldemar von Dänemark erobert Teile Estlands und belehnt deutsche und dänische Vasallen mit estnischen Gebieten.

1220-30 Gründung der Stadt Reval (heute Tallinn).

1282 Riga tritt der Hanse bei. Nach und nach schließen sich weitere baltische Städte dem Hanseatischen Bund an.

1522 Die Reformation breitet sich in Livland aus, der Deutsche Orden zerfällt.

1533-1586 Iwan der Schreckliche versucht, die baltischen Staaten zu erobern. Er scheitert zwar, aber die geistlichen Staaten zerfallen.

1561/62 Die estländische Ritterschaft und die Stadt Reval unterwerfen sich dem protestantischen Schweden, Livland und Kurland dem katholischen Polen. Die neuen Landesherren bestätigen den Ständen ihre angestammten Rechte: Selbstverwaltung, deutsche Sprache und protestantischen Glauben.

1629 Schweden erobert auch Livland.

1632 Gründung der Academia Gustaviana im estnischen Dorpat (heute Tartu), die später zur Universität ausgebaut wird. Diese deutsche Hochschule gilt als die älteste Universität auf dem Territorium des früheren Russischen Reichs. Auch heute noch ist sie in Estland die älteste Universität des Landes.

1700-1721 Großer Nordischer Krieg, Zar Peter I. und der schwedische König Karl XII. kämpfen um die Vorherrschaft in Nordeuropa. Im Jahr 1710 huldigen die deutschen Stände nach dem russischen Sieg dem Zaren, die baltischen Länder werden russische Provinzen. Die deutschen Stände erhalten im Gegenzug die Bestätigung ihrer angestammten Rechte.

1795 Das Herzogtum Kurland fällt im Zuge der 3. Teilung Polens als weitere Ostseeprovinz an Russland 

1816-1819 Bauernbefreiung in den drei baltischen Provinzen, wobei das Land bei den Gutsherren verbleibt.

1839-1841 Bauernunruhen, Missionierung der russisch-orthodoxen Kirche unter den Esten und Letten

1847-1856 Zweite Bauernreform, Trennung zwischen Guts- und Bauernland, die Bauern erhalten ein unentziehbares Nutzungs-, später auch Eigentumsrecht. Herausbildung einer Nationalbewegung der Esten und Letten.

1881-1889 Zar Alexander III. setzt eine Russifizierungspolitik in Gang, Einschränkung und teilweise Aufhebung der Autonomierechte

1914-1918 Im ersten Weltkrieg dienen viele Deutschbalten im russischen Heer. Es kommt dennoch zu Anschuldigungen und Angriffen gegen Deutsche durch russische Nationalisten. Im Zuge der absehbaren Niederlage Russlands Bestrebungen der Deutschbalten, das Baltikum an das Deutsche Reich anzugliedern.

1917 Die Oktoberrevolution bedeutet das Ende des Russischen Reiches. Estland und Lettland werden unabhängige Republiken, die deutsche Oberschicht verliert ihre Vormachtstellung.

1919 Kämpfe deutscher und baltendeutscher Freiwilligenverbände, zunächst gegen die Bolschewiki, und teilweise auch gegen die neu gegründeten Staaten Lettland und Estland.

1920 Bodenreform in Estland und Lettland, Enteignung des Großgrundbesitzes und darauf folgend Emigration vieler Deutschbalten, vor allem vieler Adliger.

1939/40 Mit dem Hitler-Stalin-Pakt und der Umsiedlung der Deutschen ins Reich endet die Geschichte der Deutschbalten im Baltikum.

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