Die scharfzüngige Antioligarchin

„Meine Familie brachte mir bei, das Individuum zu respektieren", sagt Irina Prochorowa, Schwester eines russischen Oligarchen Michail Prochorow. Foto: Marija Schkoda / Fotoimedia

„Meine Familie brachte mir bei, das Individuum zu respektieren", sagt Irina Prochorowa, Schwester eines russischen Oligarchen Michail Prochorow. Foto: Marija Schkoda / Fotoimedia

Irina Prochorowa lieferte den Verstand und das Gefühl für den Präsidentschaftswahlkampf ihres Bruders. Selbst wollte sie nicht kandidieren und zog das Leben als Kulturschaffende vor.

Der russische Milliardär Michail Prochorow hat die diesjährigen Präsidentschaftswahlen verloren, allerdings erzielte er mit seinen beinahe acht Prozent einen Achtungserfolg. Monate nach der Wahl ist der Oligarch von der politischen Bühne praktisch verschwunden. Allerdings hat er im Zuge seines Wahlkampfs ein anderes politisches Profil geformt – das seiner Schwester.

Irina Prochorowa hat jahrelang die Wohltätigkeitsstiftung ihres Bruders geleitet und das Verlagshaus Neue Literarische Umschau geführt. Doch während des Wahlkampfs trat die 56-Jährige auch als überzeugende

Biografie

Geburtsort: Moskau
Alter: 56

Irina Prochorowa ist die Schwester des Oligarchen und Expräsidentschaftskandidaten Michail Prochorow. Sie studierte Anglistik an der Lomonossow-Universität Moskau und hat ab Mitte der 1980er-Jahre für das Magazin „Literaturnoje Obosrenije“ (Literarische Rundschau) gearbeitet. 1992 gründete sie das erste unabhängige Intellektuellenmagazin „Neue literarische Umschau“, das sie im Laufe der Jahre zu einem erfolgreichen Verlagshaus aufbaute. 


Seit 2004 leitet sie die Stiftung Kulturinitiative, die von ihrem Bruder 
finanziert wird. Beim Präsidentschaftswahlkampf Anfang des Jahres unterstützte sie ihren Bruder und trat erstmals ins öffentliche Bewusstsein Russlands, als sie beim Polit-Talk im Fernsehen den Putin-Berater Nikita Michalkow zum Verstummen brachte. Irina Prochorowa ist Preisträgerin mehrerer Auszeichnungen - des amerikanischen Liberty-Preises für besondere Verdienste in den russisch-amerikanischen Kulturbeziehungen und des französischen Ordens für Kunst und Literatur.

und energische Fürsprecherin liberaler Ideen in Erscheinung. Ihre Leidenschaft und Redegewandtheit veranlassten einige politische Beobachter sogar zu dem Vorschlag, sie solle sich doch selbst um das Amt bewerben. Berühmt wurde sie, als sie in einer Fernsehdebatte den Regisseur Nikita Michalkow, einen eloquenten Redner und Putin-Anhänger, so in Grund und Boden redete, dass der am Ende erstaunt verstummte.

Doch Prochorowa sieht sich nicht in der Politik: Sie will sich in Zukunft weiterhin der Kultur widmen. Auch ihre Abneigung gegenüber Wladimir Putin reicht als Motivation für eine Politkarriere nicht aus: Prochorowa sagte einmal, Putins Jahre an der Macht hätten „die russische Kultur an den Rand einer Krise geführt“. Ginge es nach ihr, sollte man ein Land - und mithin Russland - nicht am Umfang seines Militärpotenzials messen, sondern an seinen kulturellen Schätzen.

Wohnen auf dem Arbat

Irina Prochorowa und ihr Bruder Michail wuchsen in einem Intellektuellenhaushalt auf. Irinas Augen strahlen, wenn sie über die Atmosphäre voller „Freude und Freiheit“ spricht, die in ihrem Elternhaus herrschte. Sie erinnert sich an Tanzpartys in ihrer eleganten Wohnung auf dem Arbat, jener exklusiven und sagenumwobenen Fußgängerzone im Zentrum Moskaus, in der es heute vor allem von Touristen wimmelt.

„Meine Familie brachte mir bei, das Individuum zu respektieren – und deshalb werde ich in unserer Gesellschaft, der dieser Respekt völlig fehlt, niemals Frieden finden“, sagt sie bewegt. „Die Angst vor Stalins Repressionen verfolgte unsere Eltern bis zum Ende ihres Lebens. Dieses Trauma kann nicht innerhalb einer Generation überwunden werden; wir leiden noch immer unter den Geistern dieser Epoche.“

In einem Polit-Talk brachte die diskussionsbegabte Prochorowa den Regisseur und Putin-Vertrauten Nikita Michalkow zum Schwitzen. Foto:Aleksej Fillipow / RIA Novosti

Während Prochorowas 47-jähriger Bruder ein Vermögen von rund zehn Milliarden Euro besitzt und gelegentlich durch seinen Lebensstil in die Schlagzeilen gerät, ist seine ältere Schwester ein eher konservativer Familienmensch. Prochorowa erklärt, sie habe ihr Bestes gegeben, um ihre Tochter in Bescheidenheit zu erziehen, als ganz normales Kind und nicht als verwöhnte russische Neureiche. Die Familienbibliothek mit ihren abgegriffenen Ausgaben von Jack London, Iwan Turgenjew, Guy de Maupassant und Anton Tschechow gehört zu ihren größten Schätzen. „Um an einige dieser Bücher zu gelangen, standen meine Eltern nächtelang vor Buchhandlungen Schlange“, erinnert sie sich.

Die Anglistin schrieb ihre Diplomarbeit über J. R. R. Tolkien und äußerte sich darin kritisch über das Sowjetsystem. „Meine Thesen kamen einem Affront gleich, doch ich überwand meine Angst und schilderte Tolkien nicht als fantastischen, sondern als vollkommen realistischen Schriftsteller, der in allegorischer Form den Sieg der sozialen Gerechtigkeit verlangte“, erzählt sie.

Prochorowa erhielt ihr Diplom, kämpfte aber weiterhin für mehr Transparenz in den streng reglementierten Geisteswissenschaften. „Die meisten Themen, die ich vorschlug, wurden zwangsläufig abgelehnt. Wenn wir eine Abhandlung schrieben, hatten wir viele Klippen zu umschiffen.“

Der Kleine Bruder: Michail Prochorow bei der Gründung seiner Partei. Foto: Kirill Kallinikow / RIA Novosti

Doch die Perestroika brachte frischen Wind ins Land. Zusammen mit einigen Weggefährten widmete sie sich der Kulturkritik. Ihre eigene Geschichte – jene der letzten sowjetischen Generation – 
war prägend für ihr weiteres Tun. „Ich denke, das tiefe Trauma 
der künstlichen kulturellen Isolation brachte mich zu der Entscheidung, Verlegerin zu werden“, sagt Prochorowa.

Nach Monaten intensiver Oppositionspolitik ist sie nun wieder zu ihrer Arbeit zurückgekehrt. Und lehnte es im Juni sogar ab, den Vorsitz im Beirat des Kulturministeriums zu übernehmen. Lieber wendet sie sich ihren eigenen kulturellen Projekten zu - und da betreut sie mehr als genug.

Auf ihr Konto gehen drei Zeitschriften und ganze zweiundzwanzig Buchreihen, in denen führende russische und internationale Geistesgrößen erscheinen. Der von ihr 1992 gegründete Verlag Neue Literarische Umschau hat sich zu einem interdisziplinären Forum entwickelt, in dem gesellschaftliche und geistige Trends erforscht werden. Und in der Vierteljahresschrift „Theorie der Mode“ wird über Kleidung als Spiegel gesellschaftlicher Befindlichkeiten nachgedacht.

In der Stiftung ihres Bruders setzt sich Prochorowa für junges Theater und Filmprojekte ein und zeichnet mit ihrem Literaturpreis „Nos“ sozial verantwortungsvolle Gegenwartsschriftsteller aus.

Sie ist davon überzeugt, dass sie mit ihrer Arbeit etwas bewirkt und die Gesellschaft positiv beeinflussen kann. „Unser oberstes Ziel ist der Versuch, eine ‚alternative‘ Geschichte zu erschaffen“, erklärt sie.

Anna Nemtsowa ist Moskau-Korrespondentin für das Magazin Newsweek und die Website The Daily Beast.

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