Pussy Riot: Wo bleibt die Unabhängigkeit der Gerichte?

Foto: Reuters/Vostock-Photo

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Das Urteil gegen die drei Frauen der Punkband Pussy Riot offenbarte ein weiteres Mal, dass die russischen Bürger nicht darauf zählen können, vor einem unabhängigen Gericht Gehör zu finden. Vor allem die Mittelschicht zeigt sich besorgt.

Alexander Andrejew, ein Moskauer Programmierer um die Dreißig, wirkt zermürbt. Wie bei vielen anderen Russen hat die Affäre um Pussy Riot auch bei ihm alte Wunden aufgerissen. Andrejew war einer von Dutzenden, die am 19. August an einer belebten Moskauer Kreuzung Blumen vor einer kleinen Gedenktafel niederlegten, die an den Putsch im August 1991 erinnert.


„Pussy Riot hat uns nichts Neues vor Augen geführt”, meint er. „Dem Westen hat das Verfahren demonstriert, wie unser Rechtssystem funktioniert. Die orthodoxen Christen stehen in unserer Gesellschaft den Nicht-Orthodoxen unversöhnlich gegenüber. Das Entscheidende ist aber, dass wir keine unabhängigen Gerichte haben.”


Der Westen betrachtete die rebellischen Aktionen von Pussy Riot vor allem als jugendliche, feministische Revolte gegen die traditionelle gesellschaftliche Moral. In Russland war es dagegen nicht der  provokante Auftritt im Februar selbst, der die oppositionelle Mittelschicht bewegte, sondern die darauf folgende Untersuchungshaft. Vielen Russen, die sich den politischen Protesten der jüngeren Vergangenheit angeschlossen hatten, wurde bitter bewusst:  Nach wie vor möchte in Russland niemand vor Gericht für sein Recht eintreten, weil die Abhängigkeit von den Behörden offensichtlich ist. Der Schulterschluss der Kirche mit der Regierung tritt dabei immer deutlicher zu Tage.


„Der Prozess hat die bestehenden Probleme offengelegt. Wir haben es aber je nach Region mit unterschiedlichen Ausprägungen zu tun“, meint der Moskauer Journalist Andrej Solotow, der sich auf Religionsfragen spezialisiert hat.


„Die Einwohner des Gebiets Woronesch zum Beispiel sind von der Affäre

um Pussy Riot weniger betroffen als von den Plänen, in ihrer Region Nickel abzubauen. Die Proteste dagegen waren ähnlich erfolgreich wie jene im Zusammenhang mit den Wahlen in Moskau. Aber wie im Fall von Pussy Riot nehmen viele Einheimische Anstoß an der Rolle der Kirche. Steht sie auf der Seite der Menschen oder auf der Seite der staatlichen Macht? Diese Frage stellt sich mittlerweile bei vielen Konflikten zwischen Staat und Gesellschaft.”


Nach Einschätzung der Opposition stößt der Fall Pussy Riot auf so große Resonanz in der Mittelschicht, weil sich die Massenproteste des vergangenen Winters ebenfalls gegen die Abhängigkeit der Gerichte und die Korruption richteten. Probleme, die gemeinhin mit dem Namen Putin assoziiert werden.


„Es ist nicht hinnehmbar, dass millionenschwere Korruptionsdelikte mit Bewährungsstrafen geahndet werden und Beihilfe zum Mord mit einem Bußgeld”, kritisiert Dmitri Gudkow, Abgeordneter der Partei Gerechtes Russland.

Mittelschicht und breite Bevölkerung reagieren unterschiedlich


Auch der Rechtsanwalt Artjom Toropow gehört zu denen, die an der Gedenktafel für den 19. August 1991 Blumen niederlegten. Seiner Meinung nach ist die russische Führung aufgeklärt genug, um eine Neuauflage des Putsches zu verhindern. Erschreckend findet er die Defizite in der Rechtsstaatlichkeit und den gesellschaftlichen Rückschlag, der sich im Verfahren gegen Pussy Riot gezeigt hat.


„Irgendjemand scheint entschieden zu haben, diese jungen Frauen zu bestrafen. Für mich als Rechtsanwalt ist es sehr bedrückend, dass so etwas in unserem Gerichtswesen funktioniert“, meint Toropow. Es sei ein Verfahren wie im Mittelalter gewesen. „Ich finde die Reaktion der Bevölkerung erschreckend. 40 bis 60 % sind davon überzeugt, das Verfahren sei fair abgelaufen – das ist traurig.“


Das Lewada-Zentrum hatte am Tag der Urteilsverkündung eine Studie veröffentlicht, der zufolge etwa 44 % der Befragten das Pussy Riot-Verfahren für „fair, objektiv und unvoreingenommen“ hielten. Lediglich 25 % sahen darin einen Racheakt der orthodoxen Kirche und des Kremls. Und nach Meinung von 41 % zeigte das Verfahren, dass sich viele orthodoxe Christen vom Auftritt der Band verletzt fühlten.


Wie Toropow gehörten viel Teilnehmer der Massenkundgebungen Anfang dieses Jahres der gebildeten und erfolgreichen Bevölkerungsschicht an. Ihr Protest galt weniger dem Kreml, sondern viel mehr der Korruption. Vor allem die Macht der Geschichte und die Apathie vieler seiner Landsleute brachten Artjom Toropow auf. Doch dieser Aspekt ging in der Welle der westlichen Solidarität für Pussy Riot unter.

„Wenn man sich im Westen mal die Reaktion der breiten Masse hier anschauen würde, dann würde man vor allem eines erkennen: Wir sind wieder bei der zentralen gesellschaftlichen Spaltung des 19. Jahrhunderts angekommen. Einer Spaltung zwischen dem aufgeklärten Adel und der normalen Bevölkerung, die diesen überwiegend nicht unterstützte”, meint Toropow resigniert.  

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