Zwei Jahre Haft für einen Tanz in der Kathedrale

Pussy Riot: Nadeschda Tolokonnikowa, Jekaterina Samutsewitsch, Maria Aljochina.  Foto: AP

Pussy Riot: Nadeschda Tolokonnikowa, Jekaterina Samutsewitsch, Maria Aljochina. Foto: AP

Ein Moskauer Gericht verurteilte die Mitglieder der Punkband Pussy Riot am 17. August zu zwei Jahren Lagerhaft. Wie kann man dieses absurde Urteil erklären und einordnen?

Nach russischem Gesetz ist Rowdytum nicht gleich Rowdytum. Es gibt „geringfügiges Rowdytum“, das eine Ordnungswidrigkeit darstellt und mit höchstens 15 Tagen Arrest geahndet wird. Und es gibt einfach nur „Rowdytum“ – ein Delikt aus dem Strafgesetzbuch, für das eine Haftstrafe von bis zu sieben Jahren erteilt wird.

Die juristische Grenze zwischen geringfügigem Rowdytum und seinem „großen Bruder“ ist undefinierbar: Im einen Fall ist die Rede von einer Störung der öffentlichen Ordnung, im anderen von einer schweren Störung. Was aber „schwer“ bedeutet, ist dem Gericht überlassen.

In Paragraph 213 des Strafgesetzbuchs gibt es allerdings einen Hinweis für den Richter: die Anwendung von Waffen sowie Motive „politisch, ideologisch, rassistisch, national oder religiös motivierten Hasses oder Feindschaft“ oder „Hass oder Feindschaft gegenüber einer sozialen Gruppe“.

Das bedeutet, dass ein und dieselbe Tat in Abhängigkeit von ihrem Motiv sowohl mit 15 Tagen Arrest als auch mit einer Haftstrafe von sieben Jahren geahndet werden kann. Und da es auf der Altarbühne der Christus- Erlöser-Kathedrale ohne Waffengewalt zuging, war zu beweisen, dass die jungen Frauen eine der aufgeführten Arten von Hass empfinden.

„Ihre Tat fällt eindeutig in den Bereich einer Ordnungswidrigkeit“, erklärt

"Auch ich habe Pussy Riot als ’Idiotinnen‘ bezeichnet. Aber Idiotismus ist ungleich Kriminalität. Wenn in der Gesellschaft eine Vorstellung von Gesetz und Ordnung existiert, dürfen wir sie nicht für so etwas ins Gefängnis sperren."


Alexej Nawalny, Oppositioneller Blogger und Kämpfer gegen die Korruption

der Jurist und Regierungsvertreter bei der höchsten Gerichtsinstanz, Michail Barschewskij. „Dass ihre Tat nicht als Ordnungswidrigkeit, sondern als Straftat eingestuft wurde, ist keine juristische, sondern eine politische Frage.“ Entscheidend war das dritte psychologisch-linguistische Gutachten. Die ersten beiden fanden keine Straftat in der Handlung der jungen Frauen, das letzte wurde fündig und als Einziges von der Richterin anerkannt.

Der KGB-Chef ist euer Heiliger

Die Fachleute wiesen mit nahezu grotesker Penibilität die offensichtliche Tatsache nach, dass es vor dem Altar einer Kirche nicht angebracht ist, in Masken „satirische Strophen“ zu singen.

Doch das Entscheidende: Sie kamen zu dem Schluss, dass im Vorgehen der jungen Frauen religiöser Hass zu spüren war, was das Vorliegen einer kriminellen Straftat beweist. Tatsächlich kann man einigen Stellen des „Punk-gebets“ keine warmherzigen Gefühle gegenüber der Kirche nachsagen: „Alle Pfarrkinder kriechen zur Verbeugung“, „Der KGB-Chef ist euer oberster Heiliger“, „Der Patriarch glaubt an Putin – Besser sollte er, der Hund, an Gott glauben“. Aber ist das Hass?

Der Jurist Nikolaj Polosow, die ehemalige Staatsanwältin Violetta Wolkowa und der oppositionelle Aktivist Mark Fejgin haben in den letzten Monaten nahezu den gleichen Bekanntheitsgrad wie ihre Mandantinnen erlangt. Sie verheimlichen auch nicht, dass sie zusammen mit den jungen Frauen nicht so sehr für deren Freilassung als um die gesellschaftliche Resonanz gekämpft haben.

Die Strategie der Anwälte

„Wir hatten keine Alternative“, erklärt Anwältin Wolkowa. Die

"Das Urteil hinterlässt nicht nur Spuren in der Biografie der drei jungen Frauen. Es ist ein weiterer Schlag gegen das Rechtssystem, aber mehr noch gegen das Vertrauen der Bürger in dieses System."

Alexej Kudrin, Ex- Finanzminister, Mitbegründer des Komitees für Bürgerinitiativen
 

Untersuchungsrichter haben zu Beginn klargemacht, dass die jungen Frauen nur freigelassen werden, wenn sie ihre Schuld eingestehen. Das haben sie kategorisch abgelehnt, da sie keinerlei religiösen Hass verspürten. Unsere Aufgabe war es deshalb, der russischen Gesellschaft zu zeigen, wie unser sogenanntes Rechtssystem funktioniert.“

Das erklärt auch die Strategie der Verteidigung, deren Ziel der Beweis war, dass Pussy Riot nicht wegen ihres Hasses gegenüber der Kirche, sondern gegenüber Patriarch Kyrill oder Wladimir Putin verurteilt werden.

„Der russische Durchschnitts-richter spielt der Anklage in die Hände, daran ist nichts Überraschendes“, erklärt Ella Panejach, leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Probleme der Rechtsanwendung der Europäischen Universität St. Petersburg. „In diesem Fall war das Ausmaß jedoch beeindruckend: Von den 17 von der Verteidigung beantragten Zeugen wurden nur drei angehört – das ist ein unerhörter Vorgang. Berücksichtigt man zudem, dass die Verteidigung während der Voruntersuchung keinerlei Möglichkeit hatte, auf den Vorgang Einfluss zu nehmen, bedeutet das, dass man sie einfach nicht angehört hat.“

Politische Zweckmäßigkeit?

Der wohl dramatischste Moment des Prozesses bestand darin, dass die Richterin bei exakter Einhaltung des russischen Rechts gewichtige Gründe hatte, eben dieses Urteil zu sprechen: Ihr lag das Gutachten von Fachleuten vor, in dem schwarz auf weiß geschrieben stand, dass religiöser Hass in den Worten und Taten der jungen Frauen gegenwärtig war.

Es gab allerdings auch zwei Experten, die zum gegenteiligen Schluss

"Ein solches Verhalten in einer Kirche finde ich unsittlich. Wenn die Kirche aber derart eng mit dem Staat zusammenwächst, dass sie einen Gerichtsprozess beeinflussen kann, ist das gesetzeswidrig."

Sergej Baranow, Domizellar von Tambow, legte aus Protest seinen Ordensnamen ab

gekommen waren. Hätte sie diese berücksichtigen können? Sicherlich, und sie hätte dies wohl auch tun müssen. Das wäre jedoch ein sehr ernst zu nehmender Präzedenzfall gewesen, den man in der Zukunft wohl kaum hätte ignorieren können. Zum Beispiel bei der gerichtlichen Auseinandersetzung mit irgendwelchen faschistoiden Jugendlichen, die in eine Synagoge eindringen, dort die rechte Hand zum Hitlergruß heben und „Die Juden haben Russland ausverkauft!“ schreien. Derartige Dinge passieren wesentlich öfter als Punktänze in der Christus-Erlöser-Kathedrale. Und hätte die Richterin ein milderes Strafmaß festgelegt, so hätte dies die hitzigen Gemüter wahrscheinlich noch weiter aufgeheizt.

Darf ein Richter sich aber von den Prinzipien politischer Zweckmäßigkeit leiten lassen, oder ist dies Willkür? Es ist vollkommen klar, dass dieser Disput noch so lange fortgeführt werden wird, wie das Gesetz in der gegenwärtigen Form existiert und eine völlig freie Interpretation zulässt.

Die ungekürzte Fassung dieses Beitrags erschien im Wochenmagazin Russkij Reporter.

War das Gerichtsverfahren gegen Pussy Riot rechtmäßig?

„Der Prozess im Fall Pussy Riot verläuft rechtmäßig, objektiv und unparteiisch.“ – In einer Umfrage des Lewada-Zentrums stimmten dieser Aussage vier Tage vor dem Urteilsspruch 44 Prozent zu, 39 Prozent wussten nicht, wie sie den Fall einordnen sollen. Aus einer weiteren Lewada-Umfrage vom 24. August, einer Woche nach der Urteilsverkündung, geht hervor, dass nur noch 63 Prozent die Tätigkeit Wladimir Putins als Präsident gutheißen statt 67 Prozent im Vormonat. Alexej Graschdankin, Vizedirektor des Lewada-Zentrums, führt diesen Rückgang auf den Pussy-Riot-Prozess zurück.

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