Tolstois Flucht aus dem Paradies

Hoch zu Ross: Graf Leo Tolstoi auf seinem Landgut Jasnaja Poljana. Foto: RIA Novosti.

Hoch zu Ross: Graf Leo Tolstoi auf seinem Landgut Jasnaja Poljana. Foto: RIA Novosti.

An einem Oktobermorgen des Jahres 1910 verlässt Lew Tolstoi sein Landgut Jasnaja Poljana und stirbt kurze Zeit später. Was trieb ihn dazu? Pawel Bassinski geht dieser Frage in seinem Roman „Lew Tolstoi – Flucht aus dem Paradies“ nach.

Warum hat Sie gerade Tolstois Weggang aus Jasnaja Poljana interessiert?

Das Thema steht in Verbindung mit persönlichen Momenten meines Lebens. Ich bin jedes Jahr mehrmals in Jasnaja Poljana. Diesen Ort prägen seine Elemente: das Wohnhaus Tolstois, die zauberhafte Landschaft, die er weitgehend selbst gestaltete, sein Grab. Es wird von allen besucht, die nach Jasnaja Poljana kommen, und jeder wundert sich, warum der große Mann am Rande einer Schlucht bestattet wurde. Für mich war immer wichtig, eine Antwort zu finden auf die Frage: Warum floh Tolstoi vor diesem schönen Haus, dieser überwältigenden Landschaft?

Warum hat man sich nicht schon früher dieses Themas angenommen?

In Russland existierte lange Zeit nur ein einziges Werk dazu: „Über den Weggang und den Tod Lew Tolstois" von Boris Mejlachund, herausgegeben 1960, zum 50. Todestages des Schriftstellers. Mein Buch erschien zum 100. Todestag Tolstois. Ganze zwei Bücher! Quellen wie Tagebücher, Briefe, verschiedene Dokumente, die mit dem Weggang in Zusammenhang stehen, gibt es in großer Zahl.

Und haben Sie eine Antwort gefunden auf die entscheidende Frage, warum Tolstoi Jasnaja Poljana verließ?

Nein. Die Flucht hatte etwas zu tun mit dem Konflikt zwischen Tolstoi und seiner Frau Sofja, mit seinem Testament, mit privaten Dingen. Aber es

„Flucht als buddhistische Geste" – zehn Jahre lang hat der Schriftsteller Pawel Bassinski zu Tolstois letzten Tagen geforscht. Foto: PhotoXPress.

wäre vermessen zu sagen, ich wüsste endgültig, warum er geflohen ist. In diesem Menschen muss etwas gesessen haben, das ihn quälte. Für mich persönlich ist seine Flucht eine buddhistische Geste: weggehen, die Familie verlassen, allein bleiben, sich in eine Mönchszelle zurückziehen.

Sie bezeichnen Tolstoi als „großes Kind". War seine Flucht vielleicht eine Laune?

Zu seinem Leibarzt hat Tolstoi einmal gesagt, wenn er Gott wäre, würde er es so einrichten, dass die Menschen als Greise zur Welt kämen und erst am Ende ihres Lebens Kinder würden ... Warum heißt Tolstois Erstlingswerk „Die Kindheit"? Er schrieb es im Kaukasus, im Krieg, wo er hätte getötet werden können. Offenbar hat ihn die Kindheit stets sehr beschäftigt. Vieles in Tolstois Leben wie etwa die Ablehnung von Gewalt erklärt sich aus seiner Kindheit. In diesem Sinne war er ein Kind. Ein Mensch, der sich die Reinheit der Gefühle und die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung von Ereignissen bewahrt hat. Aber auch die kindliche Dickköpfigkeit, wie seine Auseinandersetzung mit der Orthodoxen Kirche zeigt.

Büste für die Nachwelt: In Jasnaja Poljana posiert Leo Tostoi vor einem Bildhauer. Foto: RIA Novosti.

Worin lag das Wesen des Konflikts zwischen Tolstoi und seiner Frau?

Darin, dass sie ihm entsprach. Diese Entsprechung kam zum Ausdruck in ihrem Charakter, ihrem Talent. Sie hat wunderbare Tagebücher geführt, dreizehn Kinder zur Welt gebracht, bemerkenswert gemalt und fotografiert. Aber sie war keine Tolstojanerin. Ab 1881 predigte Tolstoi

Pawel Bassinski: „Lew Tolstoi – Flucht aus dem Paradies". Aus dem Russischen von Susanne Rödel. Projektverlag 2012. 537 Seiten.

eine Lehre, die sie kategorisch ablehnte. Deshalb kam es zum Zerwürfnis. Tolstajas Persönlichkeit ist bis heute übrigens nicht hinreichend gewürdigt.

Ihr Buch verkaufte sich in Russland sehr gut, andererseits gab es zu seinem 100. Todestag kaum nennenswerte Aktivitäten. Lieben die Russen Tolstoi?

Während der Arbeit an meinem Buch hatte ich ein bedrückendes Gefühl.Mir schien, die Russen liebten Tolstoi nicht. Er gehört zum Pflichtprogramm in der Schule, aber die Schüler lesen ihn nicht gerne. Als das Buch erschien, wurde mir bewusst, dass enorm viele Menschen Tolstoi verehren. Dass sein 100. Todestag auf staatlicher Ebene nicht gewürdigt wurde, erstaunt mich nicht: Er stand nie in der Gunst der Mächtigen. Tolstoi war ein Anarchist, der gegen die Lösung von Problemen nach dem Prinzip der Stärke opponierte. Und er war ein Gegner der Russisch-Orthodoxen Kirche.

Tatjana Marschanskich arbeitet als freie Journalistin und Produzentin für russische Medien. Sie promoviert derzeit an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover.

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