Sensation des neuen russischen Kinos

Der Film „Erzählungen“: Einzelne Geschichten ergeben ein tiefgründiges Spiegelbild der russischen Gesellschaft. Foto: kinopoisk.ru

Der Film „Erzählungen“: Einzelne Geschichten ergeben ein tiefgründiges Spiegelbild der russischen Gesellschaft. Foto: kinopoisk.ru

Michail Segal präsentiert seinen Film „Erzählungen“ einem faszinierten Berliner Kinopublikum auf der Filmwoche in Berlin. Einzelne Geschichten ergeben ein tiefgründiges Spiegelbild der russischen Gesellschaft. Russland HEUTE sprach mit Segal über den Charakter von Kurzfilmen, die Wahrnehmung russischer Filmkunst in Deutschland, Ähnlichkeiten zwischen Kino und Fußball sowie über Träume, die nur in Berlin in Erfüllung gehen können.

Michail Segal, der als Videoclip-Produzent Bekanntheit erlangte, ist heute einer der eigenwilligsten Regisseure Russlands. Anfang Dezember präsentierte der 38-Jährige dem Berliner Publikum seinen zweiten Film – den sozialkritisch-ironischen Streifen „Erzählungen“.

Russland HEUTE: Ihr Kurzfilm „Mir krepesha“ („Die Welt der Metallwaren“) errang den Hauptpreis des in Sotschi ausgerichteten Open Russian Film Festival „Kinotawr“, eines der bekanntesten Filmfestspiele Russlands. Warum haben Sie sich damit nicht zufriedengegeben, sondern beschlossen, drei weitere Episoden zu drehen und die vier Teile zu dem Spielfilm „Erzählungen“ zusammenzufügen?

Segal: „Mir krepesha“ hatte Erfolg, aber Kurzfilm bleibt nun einmal Kurzfilm, damit lässt sich wenig anfangen. Ich wollte jedoch, dass der Streifen in den Kinos läuft. Also haben die Produzenten Geld aufgetrieben und ich habe mir einen Langfilm überlegt, der aus einzelnen Novellen besteht. Jede Geschichte korrespondiert mit einer der Erzählungen, die ein junger Autor in einen Verlag bringt, wo sie der zuständige Lektor jedoch ablehnt, weil das Kurzprosa-Genre nicht gefragt ist.

Grundsätzlich lässt mich großes Erzählkino relativ kalt. Mir sind eigentlich keine in dieser Machart gedrehten Filme begegnet, die mich begeistert hätten. Aber ich hatte nun einmal die Chance, hier und jetzt einen Spielfilm zu drehen, also habe ich die Spielregeln akzeptiert.

 

Der Verleih Ihres Films für die Kinos in Russland ist gerade erst abgeschlossen worden, doch Kritiker und Zuschauer loben „Erzählungen“ bereits in den höchsten Tönen. Jetzt haben Sie den Film bei der 8. Russischen Filmwoche in Berlin vorgestellt. Ihre Arbeit behandelt wunde Punkte der russischen Wirklichkeit. Was erfährt das deutsche Kinopublikum durch diesen Streifen über das moderne Russland?

Der russische Kurzfilmregisseur Michail Segal.

Foto: Alexandra Schnabel

Mein Film funktioniert nicht wie ein Fernseher und ich maße mir nicht die Rechte eines Dokumentaristen an. In den vier Novellen der „Erzählungen“ handelt es sich um eine absurde Komödie, eine Sozialsatire, einen mystischen Thriller sowie um ein Melodram. Der Zuschauer lernt weniger Russland kennen als vielmehr meine Einstellung zur Wirklichkeit in Russland. Durch Reflexion des konkret Gesehenen kann sich das Publikum eine Vorstellung bilden, wie diese Realität beschaffen ist. Mich hat zum Beispiel einmal der Inhalt eines Sonetts von Shakespeare interessiert, aber ich konnte kein Englisch. Also habe ich mir die Originalversion in der Bibliothek ausgeliehen und dazu zehn verschiedene russische Übersetzungen. Deren Vergleich hat mir gezeigt, was sich in sämtlichen Fassungen als gemeinsamer Nenner wiederholt, und mich zu der Einsicht geführt, welche Gedanken Shakespeare zum Ausdruck bringen wollte. So ähnlich verhält es sich auch mit Filmen. Anhand bestimmter indirekter Anhaltspunkte in den vier Erzählungen können die deutschen Zuschauer erahnen, was in Russland geschieht.

Natürlich bilde ich in gewisser Weise die heutige Gesellschaft Russlands ab, aber mein Interesse gilt nicht vordergründig der sozialen Gesamtsituation des Landes, mich interessieren vielmehr menschliche Geschichten, die kleinen Dramen im Leben normaler Menschen, ihre Vorlieben, Abneigungen und Wertvorstellungen.

Kommt Ihr Film in Deutschland in den Verleih?

Der Film hat ein russisches Thema. Ihn Nichtrussen zu zeigen, geht mit einem hohen Risiko einher, denn er wird in einen völlig anderen kulturellen Kontext gestellt. Ich weiß, dass es hier in Berlin Verhandlungen über den Verleih der „Erzählungen“ gibt, aber was dabei herauskommt, kann ich noch nicht sagen.

In Kinos und Videotheken in Deutschland findet man nur selten russische Filme, aber Ihr erster Spielfilm „Franz + Polina“ war hier im Verleih. Wodurch hat es gerade dieser Film geschafft?

Mein erster Film unterscheidet sich sehr von den heutigen, streckenweise leichten „Erzählungen“. „Franz + Polina“ wurde nach der Novelle „Der Stumme“ des Schriftstellers Ales Adamowitsch gedreht und behandelt die Liebe eines deutschen Soldaten und eines weißrussischen Mädchens in Kriegszeiten. Tatsächlich war der Film auch in Deutschland zu sehen, weil die Kinobesitzer damit praktisch keinerlei Risiko eingegangen sind. Offenbar hat die Verleihfirmen das Thema des Zweiten Weltkriegs interessiert. Und sicherlich auch der Protagonist des Filmes: Das Bild, das ich von Franz zeichne, ist außerordentlich dramatisch und menschlich, auf gar keinen Fall aber karikaturistisch.

Sieht man einmal von den Schablonen und Themen ab, denen das Interesse des deutschen Filmpublikums gewiss ist, hat dann das andere russische Kino Ihrer Ansicht nach überhaupt Chancen auf dem deutschen Markt?

Den Begriff „russisches Kino“ gibt es als Marke so nicht in Deutschland. Es gibt einzelne Filme einzelner Regisseure. Was die künstlerische Qualität anbelangt, so ist beispielsweise vor Kurzem mit dem Film „Orda“ („Die Horde“) von Andrej Proschkin ein großartiger Streifen auf die Leinwand gelangt. Insgesamt gesehen findet man in Russland aber wenig hochwertige Filme, weil sie auch bei uns fast keiner sehen möchte. Als meine „Erzählungen“ in den Verleih kamen, haben mir die Distributor-Firmen ständig gesagt: „Sie müssen begreifen, dass unsere Landsleute prinzipiell nicht in russische Filme gehen.

Die einzige Ausnahme bilden Komödien, und auch die locken nur Publikum an, wenn sie in Kinos in der Nähe großer Einkaufszentren laufen.“ Russische Filme wird man überall sehen wollen, wenn es wirklich Meisterwerke zu sehen gibt. Leider kann heute von inhaltlicher Hochwertigkeit des russischen Kinos keine Rede sein, überwiegend handelt es sich um ein Laienspiel-Niveau. Warum scheidet Russlands Nationalmannschaft bei internationalen Meisterschaften ständig aus? Weil wir schlecht spielen. Spielen wir gut, werden wir auch gewinnen. Das Gleiche gilt für unsere Filmkunst.

Lassen wir das Thema „russisches Kino“ und wenden wir uns lieber Ihrer Person zu. Sie sind nicht zum ersten Mal in Deutschland. Können Sie sich vorstellen, hier zu arbeiten?

Ich weiß nicht, wie mein nächster Film konkret aussieht, es stehen noch verschiedene Ideen zur Auswahl. Ich bin mir sicher, dass ich sehr gern eine Ko-Produktion oder ein ganzes Projekt im Ausland realisieren würde. Eine der Ideen ist übrigens international und erfordert die Beteiligung von Schauspielern aus verschiedenen Ländern. Ich habe noch keine Erfahrung, was Arbeiten im Ausland anbelangt, aber es lässt sich überall gut drehen, wenn es ein entsprechendes Budget und ringsum vernünftige Leute gibt.

 

Wie fühlen Sie sich hier in Berlin?

Tatsächlich fühle ich mich überall gleichermaßen gut, aber in Berlin immer ein bisschen besser als anderswo. Bei meinem jetzigen Aufenthalt ist zudem ein Traum in Erfüllung gegangen. Vor ein paar Wochen habe ich bei Andrej Merslikin, einem der Hauptdarsteller in „Erzählungen“, supertolle Schuhe gesehen. Auf meine Bitte musste Andrej die Schuhsohle hochheben, bis ich von unten die Marke erkennen konnte. Dann habe ich noch in Erfahrung gebracht, dass er die Prachtstücke in Berlin gekauft hat. Heute habe ich sie gefunden, und nun bin ich glücklich! Allerdings sind die Schuhe zu teuer und zu schön, um sie auf der Straße anzuziehen. Ich stelle sie mir lieber ins Regal.

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