Das erste Mal

Die Olchon-Insel. Foto: Artjom Sagorodnow

Die Olchon-Insel. Foto: Artjom Sagorodnow

Als erster an einem Zielort anzukommen, lässt Zeit für neue Erfahrungen: Artjom genießt endlich eine Banja und geht während einer Hochzeitsfeier auf dem gefrorenen Baikalsee mächtig baden.

3. März 2013, Baikalsee.

Ich sitze in meiner Hütte und habe, während ich diese Zeilen schreibe, einen herrlichen Blick auf Olchon, die größte Insel des Baikalsees. Ich sitze aufgewärmt und frisch gewaschen in der sibirischen Banja, habe meine erste Rasur seit fast einer Woche hinter mir und eine Tasse heißen Tee, den mir das freundliche Personal zubereitet hat, neben mir stehen. Die Sonne geht langsam auf der anderen Seite des Himmels unter. Endlich Ruhe und Frieden – und den größten Teil der Reise hinter mir.

Der Baikalsee, die „Perle Sibiriens", ist der tiefste Süßwassersee der Welt, mit Dutzenden einheimischen Fischarten, die seinen Namen tragen. Ich erinnere mich an den berühmten Omul, den ich für meine Krankheit

Der Baikalsee enthält mehr Wasser als die fünf größten Seen Nordamerikas zusammen und stellt ein Fünftel des gesamten Süßwasservorrats der Erde dar. Seine Geheimnisse und sein Charme haben viele Menschen inspiriert wie zum Beispiel James Cameron, der auf der Suche nach neuen Lebensformen in dessen Tiefe tauchte. Jetzt liegt er also zugefroren vor mir und bald schon wird ihn unsere unternehmungslustige und beherzte Gruppe von Enthusiasten mit dem Auto durchqueren.

Dank meines eifrigen Teams und seiner Fähigkeit, tagelang ununterbrochen wach zu bleiben, waren wir die erste Mannschaft, die diesen „Erholungs-Stützpunkt", der durch eine Privatfirma an der Küste des

Baikalsees betrieben wird, erreichte. Es gibt Dutzende von solchen „Stützpunkten" rund um den Baikalsee sowie auf den mehr als zwanzig Inseln. Nach einem leichten Frühstück las ich drei Seiten von „Near Death in the Arctic", bevor ich wie ein Baby einschlummerte. Ich hatte sogar den seltenen Luxus, allein in einem eigenen Zimmer zu schlafen.

Ich genoss einen fünfstündigen Tiefschlaf, bevor einer der Hausmeister so nett war, mich für den Besuch der Banja zu wecken – darauf hatte ich mich seit Beginn der Reise gefreut. Ich hatte keinen Birkenreißer, wie es in Russland Brauch ist, und auch nur eine Stunde Zeit, weshalb mein Banja-Besuch sich auf eine heiße Dusche und eine Rasur beschränkte. Das war auch das erste Mal, dass ich eine Banja ganz alleine besuchte. Normalerweise geht man zusammen mit anderen Männern dorthin und schlägt sich gegenseitig mit Birkenreißern.

Als ich den Baikalsee im Sommer 2008 besuchte, prophezeite ich einem britischen Diplomaten, den ich unterwegs traf, dass es hier in fünf Jahren ein Hilton-Hotel geben würde und die ganze Gegend kommerziell erschlossen sein werde. Wir wussten unser Glück zu schätzen, hier zu sein, solange es noch unberührte Natur gab.

Ein Hilton-Hotel gibt es bis heute nicht, und ich würde auch nicht sagen, dass es hier vor Touristen wimmelt. Aber immerhin etwas Zivilisation hat sich zwischenzeitlich hier Zugang verschafft: Die Straßen sind besser geworden, es gibt mehr Firmen und möblierte Gästezimmer, die alle möglichen Touristen beherbergen, sowohl russische als auch ausländische. Elektrizität und Sanitäreinrichtung gibt es mittlerweile in den meisten Herbergen, so wie auch in unserer.

Bei Sonnenuntergang spazierte ich über das Eis zu einem riesigen Zelt, das für die Mega-Hochzeitsparty von fünf frischvermählten Paaren auf der zugefrorenen Oberfläche des Sees aufgestellt worden war. Der Spaziergang bot mir die Gelegenheit, die umgerechnet 8 Euro teuren Steigeisen, die ich mir vor ein paar Wochen in einem Moskauer Sportwarengeschäft hatte aufschwatzen lassen, endlich einmal auszuprobieren. Ich stellte fest, dass sie das Wandern auf dem Eis wirklich spürbar erleichtern.

Ich näherte mich der lauten Musik und erblickte ein üppiges Büfett. Übrigens: Je weiter man in Russland nach Osten reist, desto größer werden die Pelmeni, bis sie anfangen, chinesischen Klößen zu ähneln. Die Bar stand draußen und war vollständig aus Eis gefertigt. Die fünf frisch verheirateten Paare nahmen meine Glückwünsche entgegen, und sogleich tranken, aßen und tanzten sie zu den Klängen einer Popgruppe aus Perm.

Jemand hatte eine mobile Banja neben dem riesigen Zelt aufgestellt und ein Loch zum Eisbaden in der Nähe der Banja gebohrt. Der Veranstalter ermahnte die Besucher, im Dunkeln nicht zufällig in das Loch zu stolpern. Bei näherer Betrachtung sah ich über der Öffnung ein riesiges Kreuz aus Eis, das religiöse Männer, die hier ins eiskalte Wasser tauchten, als ein Zeichen ihres Glaubens in Fortführung einer jahrhundertealten Tradition angefertigt hatten.

Während ich von der Idee, wie ein Verrückter splitternackt ins eiskalte Wasser zu tauchen und dabei von Journalisten gefilmt zu werden, anfangs nicht sonderlich begeistert war, überzeugte mich schließlich mein Freund Tolja, es doch einmal zu versuchen. In der Banja versicherte mir einer der Bräutigame, dass er zum ersten Mal in eiskaltes Wasser getaucht sei und dass es sich wirklich nicht kalt anfühle. Er erklärte das damit, dass der Körper gar nicht dazu käme, sich an die plötzliche Temperaturänderung anzupassen. Ich gab mir also einen Ruck, sprang ins Wasser und tauchte traditionsgemäß dreimal kurz unter. Dann kehrte ich zur Banja zurück und wiederholte die ganze Prozedur noch einige Male. Der Mann hatte übrigens vollkommen Recht – ich spürte die Kälte absolut nicht.

Was für eine Reise!

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