Ab den Maifeiertagen stehen dann an jedem Freitagabend die Fahrten zur Datscha auf der Tagesordnung. Foto: ITAR-TASS
Wie der Geist aus der Flasche machen sich die Hauptstädter auf in die großen Gartencenter und Baumärkte, um Datschen und Balkone aufzubrezeln. Die großen Einkaufswagen können die vielen Pflanzen und Baumaterialien oftmals gar nicht fassen. Ich mischte munter mit, denn der Balkon soll ja wieder eine kleine grüne Oase werden und die Küche muss renoviert werden. Was ich eigentlich in den vielen freien Tagen zum Jahreswechsel erledigen wollte, muss nun aber mit aller Macht angegangen werden.
Durch zu langes Zögern hatte ich die Aktion vergeigt, billige Flugtickets nach Istanbul zu ergattern. Einen Tag später kosteten sie schon das Doppelte. Als Ausweichmanöver stand Tula mit Besuch von Jasnaja Poljana, dem Landsitz Lew Tolstois, und das nahe gelegene historische und verschlafene Städtchen Krapivna zur Debatte. Aber durch wöchentliche Dienstreisen ins Land vom „unaufdringlichen" Service geschädigt, ließ ich diesen Plan letztendlich fallen und besann mich auf die Renovierung.
Ich betrachtete bei einer Tasse Kaffee durch die Glasscheibe das Gewusel und den Andrang in einem bekannten deutschen Baumarkt, der in Moskau und in vielen anderen Städten ein großes Netz von Läden aufgebaut hat. Nebenan der schwedische Möbeldiscounter und nicht weit davon ein großer Markt der Metro, die ebenfalls bis in die entlegensten Winkel des großen Landes vorgedrungen ist. Trotz des derzeit miserablen Rubelkurses, angekündigter galoppierender Inflation und steigender Preise ist der Kaufdrang ungebrochen. So als ob niemand Nachrichten hört und alles unverändert bleiben würde.
Mir scheint, man scheut sich davor, ernsthaft darüber nachzudenken, was bei weiterem Spiel mit dem Feuer passieren könnte. Sollten strenge Sanktionen verhängt werden, ist innerhalb kürzester Zeit Schluss mit
Shoppen was das Zeug hält. Lieb gewordene Waren werden dann einfach fehlen, das Geld dafür übrigens auch. Aber vielleicht ist es nicht nur die Scheu vor schlechten Prognosen, sondern auch die Unfähigkeit, aus der Masse sich widersprechender Informationen zu einem eigenen Urteil zu kommen.
In ländlichen Gefilden leben die Menschen viel bescheidener und die Sorge, dass Importwaren sich schnell verteuern, haben sie weitaus weniger. In den Dorfläden kaufen sie nur das, was Garten und Stall nicht hergeben. Stimmungsaufhellende Getränke brauen und brennen sie ebenfalls selbst, genauso wie sie auch den wohlschmeckenden Kwas selber herstellen.
Der Frühling ist hierzulande auch jedes Jahr schwer patriotisch besetzt. Zu den Maifeiertagen wird die große Windmaschine herausgeholt und den Leuten das patriotische Gefühl ordentlich hoch gefönt. Trotz alledem verfolgen die meisten Städter das Spektakel von ihrer Datscha aus, wo der Fernseher ständig an ist und in den Pausen, die sie sich bei der Gartenarbeit gönnen, werfen sie ein Auge drauf. Diese Gelassenheit ist beneidenswert.
Ab den Maifeiertagen stehen dann an jedem Freitagabend die Fahrten zur Datscha auf der Tagesordnung. Sie bescheren den Hauptstädtern jedes Wochenende Megastaus, die sie mit stoischer Ruhe ertragen. Wer die Eltern oder Großeltern ab Mai auf die Datscha schicken kann ist natürlich besser dran. Der muss nicht jedes Wochenende zum Gießen und Unkraut rupfen hinaus fahren und kann sich hin und wieder ein entspanntes Wochenende in einer angenehm leeren Stadt leisten, mit Freiluftkonzerten und Biergartenbesuchen zum Beispiel.
Im Frühling sieht die Stadt auch blanker aus als sonst. Das hat nicht nur mit dem zarten Grün zu tun, sondern auch mit rigorosen Aufräumarbeiten in Parks und Grünanlagen. Außerdem sind alle heilfroh, endlich die dicken
Winterklamotten ablegen zu können und zeigen, was sie haben. Vor allem die jungen Frauen kommen in Atem beraubenden Outfits daher. Inzwischen putzen sich auch die Männer, natürlich in erster Linie die jungen und ganz jungen, ordentlich heraus und zeigen Mut zur Farbe und zu ausgefallenen Schuhen, Hosen und Frisuren.
Das alles können wir bis zum Herbst bewundern und genießen und selbst natürlich mittun. Wenn nicht ein blutrünstiges Szenario das friedliche Leben stört und zerstört. Davor bewahre uns der Himmel, oder wer auch immer.
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