Steinmeier: „Frieden in Europa ist keine Selbstverständlichkeit“

Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier.

Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier.

Reuters
Am 22. Juni 1941, genau vor 75 Jahren, griff Nazi-Deutschland die Sowjetunion an. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier warnt in einem Gastbeitrag für die russische Tageszeitung „Kommersant“ vor einer schleichenden Entfremdung zwischen den Ländern und ruft zu engerem Dialog auf.

In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941, heute vor 75 Jahren, brach die Hölle los. Millionen deutsche Soldaten, Hunderttausende Fahrzeuge und Pferde, Tausende Panzer, Flugzeuge und Geschütze wurden auf Befehl Hitlers mit aller Kraft nach Osten, gegen die Sowjetunion geworfen. Ihr furchtbarer, wahnwitziger und größenwahnsinniger Auftrag war es, dem deutschen ‚Herrenmenschentum‘ nun endlich die verdiente und vom Schicksal zugedachte Herrschaft über ganz Eurasien zu verschaffen und die Menschen in der Sowjetunion zu unterjochen und zu vernichten. Wider jede Vereinbarung, aus heiterem Himmel, gegen den Bündnispartner, mit dem man noch wenig zuvor Polen und das Baltikum brutal unter sich aufgeteilt hatte.

Die Folgen waren fürchterlich, erst für die Überfallenen, und am Ende auch für die Angreifer. Der Überlebenskampf gegen den mit bis dahin ungekannter Grausamkeit geführten deutschen Angriffskrieg kostete mehr als 25 Millionen Menschen in der Sowjetunion das Leben. Noch mehr Menschen brachte er Hunger, Leid und Vertreibung. In weiten Teilen der Sowjetunion hinterließ der Krieg unbeschreibliche Zerstörung. Auch die Angreifer ereilte schließlich das Schicksal von Tod und Gewalt, Gefangenschaft und Not.

Sankt Petersburg – die Belagerung von Leningrad –, Wolgograd – die Schlacht um Stalingrad –, die Schlacht um Kiew und die Untaten in der Schlucht von Babij Jar und auch der Kessel von Minsk stehen heute noch als Symbole des heldenhaften Widerstands und des Grauens eines in den Osten getragenen Krieges, der jede zivilisatorische Errungenschaft hinwegfegte.

Auch bei allen aktuellen Debatten um die europäische Friedensordnung dürfen wir nie vergessen, dass die Aggression, der Vernichtungskrieg, die Untermenschen-Ideologie aus Europa, aus dem Westen, von Hitler-Deutschland über die Völker der Sowjetunion hereingebrochen ist.

Wer wie ich häufig in Russland, der Ukraine und auch in Weißrussland ist, weiß, wie sehr der ‚Große Vaterländische Krieg‘ noch im Bewusstsein der Menschen präsent ist, nicht als ferne Reminiszenz aus der Geschichte, sondern mitten in der Gegenwart, mit allen seinen Gräueln, aber auch mit Stolz auf die erfolgreiche Selbstbehauptung im aufgezwungenen Kampf um Leben und Tod.

Der Blutzoll, den Russen, Ukrainer, Weißrussen und die vielen anderen Völker der Sowjetunion gezahlt haben, ist unermesslich und bis heute unvergessen – in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ebenso wie bei uns.

Das zu sagen, relativiert nicht die Verbrechen Stalins, den Gulag, die Zwangskollektivierung und den Hungertod von Millionen Menschen, vor allem in der Ukraine.

Wir Deutsche sind unendlich dankbar dafür, dass uns die Menschen in Russland, der Ukraine, in Weißrussland und anderswo in der ehemaligen Sowjetunion angesichts der im deutschen Namen begangenen Untaten und Verbrechen die Hand zur Versöhnung gereicht haben. Auch dafür, dass aus den traumatischen Erfahrungen des Kriegs und erbitterter Feindschaft, aus Gewalt und Barbarei, aus Leid und Vertreibung Verbindendes und Partnerschaft, ja sogar wieder Freundschaft wachsen konnte.

Das Wachhalten der Erinnerungen an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und an die deutsche Schuld war, ist und bleibt eine unverzichtbare, zwingende Voraussetzung für die Aussöhnung zwischen unseren Ländern.

Heute, 70 Jahre nach Ende des Krieges, unterhalten wir mit allen Staaten, die aus dem Untergang der Sowjetunion hervorgegangen sind, gedeihliche diplomatische, politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen. Mit allen pflegen wir ein intensives Gedenken an den Zweiten Weltkrieg und die Opfer der nationalsozialistischen Barbarei.

Wir wissen, dass das alles andere als selbstverständlich ist.

Der Blick 75 Jahre zurück lässt uns erschauern darüber, was Menschen im so modernen, hochentwickelten, fortschrittlichen und zivilisierten Europa einander antun konnten. Und er ermahnt uns in der denkbar eindringlichsten Weise, alles Menschenmögliche zu tun, die europäische Friedensordnung zu bewahren, die aus den Trümmern des fürchterlichsten Kriegs entstanden ist, den die Welt je gesehen hat.

Gerade in einer Zeit, in der in Europa die Gefahr neuer Trennlinien besteht, müssen wir uns immer wieder aufs Neue die Bedeutung dieser gemeinsamen Erinnerungen bewusst machen.

Nur gemeinsam können wir eine nachhaltige und stabile Friedensordnung in Europa erhalten. Die Schlussakte von Helsinki, die großen Abrüstungsverträge, die Charta von Paris, der europäische Einigungsprozess – all das gilt es zu achten, zu bewahren und gemeinsam weiterzuentwickeln.

Dialog und gemeinsames Gedenken, enge Kontakte zwischen unseren Gesellschaften und besonders zwischen jungen Menschen unserer Länder können und müssen helfen, einer schleichenden Entfremdung vorzubeugen.

Wir stehen zusammen vor den großen Herausforderungen unserer Zeit, und wir werden nur zusammen bestehen: In einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. Mit einer riesigen Zahl von Flüchtlingen, mehr als je zuvor und so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. In einer Zeit, in der Terrorismus unsere Freiheit und unsere Art zu leben bedroht. In einer Zeit auch, in der mitten in Europa, im Osten der Ukraine, tagtäglich Tote und Verwundete zu beklagen sind.

Frieden in Europa ist keine Selbstverständlichkeit – auch heute nicht! Er wird nur bleiben, wenn wir dafür arbeiten – Tag für Tag! Da, wo er gefährdet ist, haben wir, die wir heute Verantwortung tragen, den Auftrag, aus unserer gemeinsamen Geschichte die richtigen Lehren zu ziehen.

Ich wünsche mir, dass wir auch beim Umgang mit den Konflikten unserer Zeit nie vergessen, dass uns Europäer ungleich mehr verbindet, als uns trennt.

Wenn wir den Opfern des Krieges, den Soldaten in den namenlosen Gräbern und den ermordeten misshandelten Alten, Frauen und Kindern eines schulden, dann die gemeinsame Erinnerung an ihr Leiden und ihr Opfer und die tägliche Bekräftigung: ‚Nie wieder!‘

Frieden in Europa ist keine Selbstverständlichkeit – auch heute nicht!

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Tageszeitung Kommersant.

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