Spielszene aus dem Film „Holocaust – ist das nicht ein Tapetenkleister?" Foto: Pressebild
Die Idee zu dem Dokumentarfilm kam Mumin Schakirow vor einigen Jahren. Bei der Castingshow „Besumno krasiwyje“ („Wahnsinnig schön") antworteten die damals 21-jährigen Zwillinge Xenia und Jewgenija Karatygin auf die Frage „Was bedeutet Holocaust?" mit „Ist das nicht ein Tapetenkleister?". Der Clip gelang ins Internet, wurde von über einer Million Nutzer angesehen und von Tausenden kommentiert. Die meisten machten sich über die fehlende Allgemeinbildung der jungen Frauen lustig.
Auch Schakirow, damals für den Radiosender Freies Europa tätig, war irritiert. Doch seine journalistische Neugier trieb ihn zu einem Experiment: Er fuhr mit den beiden Schwestern nach Auschwitz, um mit ihnen gemeinsam das Gelände des Vernichtungslagers zu besichtigen. Das Ganze hielt er filmisch fest.
Später erzählte Schakirow Journalisten, dass er keine Ahnung gehabt hätte, wie die Reaktion der jungen Frauen ausfallen würde. Er hätte sich vorher auch keinen Plan zurechtgelegt. „Ich war auf jede nur mögliche Variante vorbereitet. Auch dass sie überhaupt keine Reaktion zeigen würden. Dass sie sich das Ganze nur anschauen und sich dann wieder Themen wie Shopping zuwenden würden. Wenn die Mädchen eine andere Reaktion gezeigt hätten, wäre ein vollkommen anderes Sujet herausgekommen", berichtete der Filmemacher.
Der Dokumentarfilm ist in voller Länge und in russischer Sprache auf Youtube zu sehen.
Aber es kam anders. Die jungen Frauen erlebten in Auschwitz etwas, was man wohl am besten als Läuterung bezeichnen kann. Nach der Besichtigung konnte die eine der Schwestern für eine ganze Weile nicht mehr aufhören zu weinen. Ein Journalist brachte es auf den Punkt: Nach dem Besuch von Auschwitz „waren die jungen Frauen um siebzig Jahre gealtert".
Vom positiven Ende des Films waren allerdings die Zuschauer der älteren Generation enttäuscht – sie hatten von dem Streifen eine kritischere Bewertung der Jugend erwartet. Schakirow hatte jedoch nicht vor, einen wissenschaftlichen Film zu drehen. Er nahm die Position des neutralen Beobachters ein und war darum bemüht, die Jugendlichen nicht zu verurteilen, sondern die Ursachen für ihr Unwissen zu ergründen.
Die Erforschung des Milieus, dem die jungen Frauen entstammen, war nicht weniger interessant als die Reise nach Polen. Schakirow suchte die Heimat der beiden Frauen auf – das Dorf Krasnaja Gorbatka in der Oblast Wladimir. Er sprach mit ihrer Mutter und der Geschichtslehrerin in der Schule. Mittlerweile studierten die beiden Schwestern an der Moskauer Hochschule für Design.
Die jungen Frauen stammten ganz und gar nicht aus einer sozial benachteiligten Familie. Vielmehr hatten Sie ein geordnetes Umfeld und sprachen ein gepflegtes Russisch. Umso mehr verwunderte es Schakirow, dass sie noch nie etwas über den Holocaust gehört hatten. Und damit waren sie nicht allein, wie man dem Film entnehmen kann. Ihre Geschichtslehrerin bekannte, sie schäme sich dafür, dass sie ihren Schülern nichts über den Holocaust erzählt hätte. Sie fühle sich noch nicht für die Vermittlung dieses Themas bereit, erklärte sie, doch sie werde es nachholen, sobald sie die „geeignete Form" dafür gefunden habe.
Auch die Mutter der beiden Schwestern schämte sich für ihre Töchter, brachte aber gleichzeitig ein Argument zu deren Verteidigung hervor: „Ich habe alle meine Nachbarn, Bekannten und Kollegen gefragt – keiner von ihnen konnte mir sagen, was Holocaust bedeutet."
All dies erscheint unerwartet, wenn man berücksichtigt, dass der staatlich verordnete Patriotismus, zu der auch die Erzählungen über den Krieg und dessen Opfer gehören, eine der Stützen der Putinschen Ideologie ist. Dabei stellen sich die beiden jungen Frauen als typische Vertreterinnen der „Generation Putin" dar. Sie sind praktisch mit dem gegenwärtigen Präsidenten Russlands groß geworden.
Die Geschichte der beiden Mädchen wandelt sich im Film zu einem Porträt einer Generation, die keine Vorstellungen mehr von den Verbrechen der Nationalsozialisten hat. Wir sind mit einem Phänomen konfrontiert, das wesentlich komplexer ist als die bloße Leugnung des Holocausts. Es geht vielmehr um die Unkenntnis an sich. Dieses Problem, bekennt Schakirow, betreffe übrigens nicht nur Russland allein: In Europa, den USA und sogar in Israel interessieren sich viele Jugendliche nicht für das Thema Holocaust.
Der Film wurde zu keinem Verdikt gegen die jungen Frauen. Vielmehr ist er als Kritik gegen das heutige Schulbildungssystem in Russland zu werten. Allerdings waren der Begriff Holocaust und die massenhafte Vernichtung der Juden während des Zweiten Weltkrieges in der UdSSR ebenso unbekannt. All dies wurde von der sowjetischen Propaganda verschwiegen. Stattdessen wurde die Formulierung „massenhafte Opfer unter der Zivilbevölkerung" bevorzugt.
Nach dem Besuch von Auschwitz stellten die jungen Frauen fest, dass sie nun zu einer „Minderheit, die jetzt über den Holocaust Bescheid weiß und der Mehrheit darüber berichten muss" gehören. Als Schakirow nach den Dreharbeiten die jungen Frauen im Studentenwohnheim besuchte, bemerkte er in einem Regal mehrere Bücher über den Holocaust. Ihre Freunde würden sich für ihre Erzählungen zu dem Thema kaum interessieren, behaupteten die Schwestern. Sie gehören also tatsächlich einer Minderheit an.
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