Irene Langemann: „Für mich ist Pawlenskij kein Verrückter“

Reuters
Die in Sibirien aufgewachsene deutsche Filmemacherin Irene Langemann spricht im Interview über ihren neuesten Film, der den umstrittenen Skandalkünstler Pjotr Pawlenskij zum Protagonisten macht. Dieser hat auch einiges mit ihrem eigenen konfliktgeladenen Verhältnis zu Russland zu tun.

Pawlenskij – der Mensch

Pjotr Pawlenskij ist ein ganz und gar politischer Mensch, der mit seinen radikalen Aktionen immer wieder Behörden und die Öffentlichkeit auf sich aufmerksam macht. So stellte er sich im Juli 2012 als Reaktion auf den Prozess gegen „Pussy Riot“ mit zugenähten Lippen im Zentrum von Sankt Petersburg auf. 2013 wickelte er sich vor dem Stadtparlament nackt in Stacheldraht, später nagelte er seinen Hodensack auf das Pflaster des Moskauer Roten Platzes. 2015 legte er an einer Tür des Hauptgebäudes des Inlandgeheimdienstes FSB Feuer, weswegen er verhaftet wurde. Im Juni 2016 wurde er zu einer Geldstrafe verurteilt und freigelassen.

RBTH: Frau Langemann, Sie sind in Russland geboren. Was bedeutet das für Sie persönlich?

Irene Langemann: Ich bin in Sibirien in eine deutsche Familie hineingeboren. Meine erste Sprache war Deutsch, meine zweite habe ich im Kindergarten mit drei Jahren gelernt. Von meiner Identität her bin ich deutsch, so bin ich erzogen worden von meinen Eltern. Aber die russische Kultur, Sprache, Musik, der russische Film – das hat mich sehr geprägt, als Mensch und als Künstlerin.

Im Jahr 1990 bin ich fortgezogen. Einer der wichtigsten Gründe war, dass ich nicht mehr in dem damals noch sowjetischen System leben konnte und wollte. Ich hatte immer das Gefühl, dass das Individuum in diesem System von der Macht unterdrückt wird und man sich als Mensch, als Individuum, nur begrenzt entwickeln kann. Das ist mein Konflikt mit dem Land, in dem ich groß geworden bin, in dem ich auch beruflich tätig war.

Die Filmemacherin Irene Langemann hat ein konfliktgeladenes Verhältnis zu Russland. Foto: Peggy LohseDie Filmemacherin Irene Langemann hat ein konfliktgeladenes Verhältnis zu Russland. Foto: Peggy Lohse

Ihre erste Assoziation mit diesem Land ist Unterdrückung?

Ja, die Unterdrückung des Freigeistes, von Andersdenkenden, von anderen Nationen: Ich bin in meiner Kindheit als Deutsche stigmatisiert aufgewachsen in einer schwierigen Umgebung, die uns Deutsche immer als „Faschisten“ beschimpft hat, die Eltern der Nachbarskinder, der Mitschüler ... Das war heftig.

Denken Sie dabei an die Sowjetunion oder das heutige Russland?

Ich sehe leider mit Putins Regierungszeit eine immer stärkere Zuwendung zur Vergangenheit. Natürlich nicht so in der Form wie damals, aber es gibt immer wieder Parallelen zu dem, was früher war. Das schockiert mich sehr und darum ist so ein Film wie über Pawlenskij für mich besonders wichtig.

In Ihren russischen Filmen stellen Sie einmal einen mindestens exzentrischen Künstler („Pawlenski“) dar, dann wieder den Kontrast zwischen Superreichen und Bitterarmen in einer Gegend („Rubljowka – Straße zum Glück“) und plötzlich junge Musiktalente. Warum diese extremen Sprünge?

Ich glaube, der Ursprung der Themen liegt natürlich in mir als Künstlerin, als Filmemacherin. Ich wollte zum Beispiel als Kind Pianistin werden. Das Talent hat zwar nicht gereicht, aber die Liebe zur Musik und die Verbundenheit sind geblieben. Und ich habe mich immer gefragt, warum es im 20. Jahrhundert so viele russische Pianisten gab. Der ursprüngliche Gedanke war dann, einen Film über die russische Klavierschule zu machen. Und dann kam ich in die Zentrale Musikschule und sah diese unglaublichen Talente.

Bei „Rubljowka“ war es so, dass ich in einer russischen Zeitung einen Artikel gelesen habe über die Rubljowka-Straße als „goldenen Nationalpark“. Das war 2004. Die Rubljowka kannte ich aber auch schon aus meiner Studentenzeit. Wir haben dort im Fluss gebadet, uns mit Freunden getroffen. Ich wusste damals nicht, dass sie eine Oligarchen-Straße ist. Das fand ich dann sehr spannend und ich wollte wissen: Was ist da passiert?

Und bei dem Film über Pawlenskij haben Sie in dem Protagonisten Ihren eigenen Konflikt mit Russland wiedergefunden?

Ich habe von Anfang an sehr aufmerksam seine politischen Aktionen verfolgt. Und als er sich den Mund zugenäht hat, war das ein so starkes metaphorisches Symbol. Das hat mich dazu gebracht, ihn zu kontaktieren und zu überlegen, einen Film zu machen. Bei unserem ersten Telefonat habe ich ihm die Frage gestellt, was denn die Quintessenz seiner Kunst sei. Und für ihn war das die Beziehung zwischen der Staatsmacht und dem Menschen, dem Individuum. Das ist genau das, was mich auch immer interessiert hat. Deswegen wollte ich diesen Film unbedingt machen.

Im November 2013 nagelte Pawlenskij seinen Hodensack auf das Pflaster des Moskauer Roten Platzes. Foto: ReutersIm November 2013 nagelte Pawlenskij seinen Hodensack auf das Pflaster des Moskauer Roten Platzes. Foto: Reuters

Sind Sie bei der Arbeit an „Pawlenski“ selbst mit der russischen „Staatsmacht“ in Berührung gekommen? Im Film gibt es da ja eine Szene ...

Wir sind vier Mal festgenommen worden. Und einmal war ich gerade in Deutschland.

Als wir da im Gefängnishof festgenommen wurden, war das natürlich sehr brenzlig. Ich wusste zwar, dass wir keine Drehgenehmigung hatten, aber wir hätten auch keine bekommen, darum haben wir das riskiert.

Haben Sie versucht, Ihren Protagonisten im Gefängnis zu kontaktieren?

Ja, wir haben Briefe geschrieben. Und ich hatte vor, ein Gespräch mit ihm im Gefängnis zu machen, aber dann ist er – für uns alle überraschend – freigekommen. Eigentlich haben die Anwälte damit gerechnet, dass er drei Jahre bekommt.

Wo sehen Sie, auch mit dem Film über Pawlenskij im Hintergrund, die Grenze zwischen Kunst, politischem Aktivismus und einem gewissen Wahnsinn?

2013 wickelte sich Pawlenskij vor dem Stadtparlament nackt in Stacheldraht. Foto:  PhotoXpress2013 wickelte sich Pawlenskij vor dem Stadtparlament nackt in Stacheldraht. Foto: PhotoXpress

Für mich ist Pawlenskij definitiv kein Verrückter. Er ist Künstler, weil er in einem Kontext arbeitet. Zum Beispiel die Aktionen mit dem zugenähten Mund oder die Aktion mit dem Stacheldraht – das sind sehr stark visuell umgesetzte Aktionen. Jeder Künstler, der solche Sachen macht, muss ein bisschen verrückt sein, damit ist er nicht gleich irrsinnig. Pawlenskij weiß genau, was er macht, er überschreitet Grenzen. Er macht grenzüberschreitende drastische Protestkunst.

Er fügt sich selbst diese Wunden zu. Bei vielen Aktionen ist er nackt und ein nackter Mensch ist ja völlig ungeschützt. Er tut nichts – er liegt, sitzt oder steht. Das Handeln überlässt er den Vertretern der Macht und die wissen nicht, was sie mit ihm tun sollen. Er kann keine Fragen beantworten, weil sein Mund zugenäht ist. Oder er ist festgenagelt, wie sollen sie ihn da festnehmen? Und das ist ja auch Ironie, eine gewisse Absurdität.

Wenn jemand verletzt oder in Mitleidenschaft gezogen würde, dann wäre das für mich keine Kunst mehr.

 2015 legte Pawlenskij an einer Tür des Hauptgebäudes des Inlandgeheimdienstes FSB Feuer und wurde verhaftet. Quelle: Youtube

Sie sehen in Pawlenskij ein Symbol. Wofür?

Für mich hat es Symbolkraft, dass ein einzelner Mensch es wagt, gegen die Staatsmacht vorzugehen, indem er sich selbst verstümmelt. Er steht für mich nicht für Russland, er kämpft auf einsamer Flur, er ist allein. 

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