Fast vergessen: Warum das kanadische Militär in den russischen Bürgerkrieg verwickelt wurde

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Mehr als ein Jahr waren kanadische Streitkräfte in Wladiwostok stationiert. Sie eröffneten eine Bank, bauten ein Krankenhaus und nahmen an Kampfhandlungen teil. Dabei begann die Reise der Kanadier nach Sibirien mit einem Aufstand. Warum mussten sie nach Russland?

Am 21. Dezember 1918 brach in der kanadischen Stadt Victoria ein Aufstand aus. Das 259. Gewehrbataillon des kanadischen Expeditionskorps für Sibirien sollte nach Wladiwostok verlegt werden. Doch die Soldaten weigerten sich, nach Russland zu fahren. 

Gerade erst war der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen. 45.400 Kanadier hatten ihr Leben verloren. Es gab nicht mehr genug Freiwillige, daher hatte die kanadische Regierung schon ab 1917 Zwangseinberufungen angeordnet. 

Kanadische Soldaten in Victoria

Russland war von zwei aufeinander folgenden Revolutionen erschüttert. Im Februar 1917 wurde der Zar gestürzt und im Oktober übernahmen die Bolschewiki die Macht. Russlands Verbündete der Entente und einige andere Staaten wie Japan beschlossen, Soldaten ins ehemalige Russische Reich zu schicken. Da Kanada ein Verbündeter Großbritanniens war, war das Land mit von der Partie. 

Warum wurden kanadische Soldaten nach Wladiwostok geschickt? 

Unmittelbar nach der Oktoberrevolution, die das endgültige Aus für die Zarenherrschaft in Russland bedeutete und die Bolschewiki an die Macht brachte, erließ die neue Sowjetregierung am 8. November 1917 das „Dekret über den Frieden“, in dem die sofortige Aufnahme von Friedensverhandlungen aller Kriegsparteien gefordert wurde.

Die Gegner des früheren Russischen Reichs, die sogenannten Mittelmächte (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich und Bulgarien) reagierten positiv auf diesen Vorstoß, die Verbündeten Russlands, vor allem England und Frankreich, hofften dagegen auf den Fortbestand des Russischen Reichs, damit dieses sich weiter im Krieg gegen die Mittelmächte engagiere.    

Im Dezember 1917 legten Vertreter Englands und Frankreichs in Paris ihre  „Interessenbereiche“ auf dem Gebiet des ehemaligen russischen Reiches fest. Vor einer offiziellen Kriegserklärung gegenüber dem Sowjetstaat nahmen sie jedoch Abstand. Das änderte sich nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk zwischen der Sowjetunion und den Mittelmächten vom 3. März 1918.

Die aufrührerischen Zwangsrekrutierten wurden mit Peitschen und Pistolen auf das Schiff getrieben.

Kanada als Verbündeter Großbritanniens geriet so ebenfalls in den Strudel der Ereignisse.  

Der Aufstand in Victoria wurde rasch von loyalen hochrangigen Offizieren und Soldaten niedergeschlagen. Die aufrührerischen Zwangsrekrutierten wurden mit Peitschen und Pistolen auf das Schiff getrieben. 23 Stunden dauerte es, bis alle Mann an Bord waren, wo sie in Ketten gelegt wurden. Drei Wochen verbrachten sie in ihrem schwimmenden Gefängnis. 

Das kanadische Expeditionskorps für Sibirien zählte etwa 4.200 Mann. Kanadische Soldaten wurden nicht nur nach Wladiwostok geschickt, sondern auch nach Murmansk (500 Mann) und Archangelsk (600 Mann).  

Gekommen, um zu bleiben  

Die ersten Einheiten trafen im Oktober 1918 ein, der  größte Teil der Streitkräfte folgte am 15. Januar 1919. Sie legten in der Bucht des Goldenen Horns an. Wladiwostok empfing die Kanadier gelassen. 

Die kanadische Garnison befand sich etwas außerhalb der Stadt. Gelegentlich wagten sich Soldaten in diese hinein. Sie fanden Gefallen an Kultur, Shows, Film und Sportangeboten. Sie lernten die russische Sprache. Viele blieben für immer in Wladiwostok.  

Kanadische Truppen in Wladiwostok

Es war nicht nur die Politik, die die Kanadier dort hielt. Es gab auch wirtschaftliche Gründe. Im Winter 1918/1919 wurde in Wladiwostok eine Filiale der Royal Bank of Canada eröffnet. Fünf kanadische Geschäftsleute versuchten zu dieser Zeit, eine kanadisch-sibirische Wirtschaftskommission zu etablieren, deren Möglichkeiten jedoch durch den Bürgerkrieg stark begrenzt waren. 

Kanada schickte Unterstützer für die Weiße Bewegung, die auf der Insel Russkij ein Ausbildungszentrum für die Weiße Armee und ein Krankenhaus einrichteten. 

Wladiwostok zu Beginn des 20. Jahrhunderts 

Die Kanadier stellten fest, dass rund ein Drittel der Bevölkerung von Wladiwostok Asiaten waren. Chinesen, Koreaner und Japaner machten den größten Teil aus. Wladiwostok gab zur damaligen Zeit ein buntes Bild ab. Es war einerseits eine Stadt voller Leben, in der Straßenbahnen fuhren und regelmäßig Veranstaltungen draußen in den Straßen stattfanden. Andererseits war es eine Hochburg des Verbrechens. 

Wladiwostok im Jahr 1918

Zudem wütete die Spanische Grippe in der Stadt, an der weltweit 50 bis 100 Millionen Menschen starben. Die Pandemie verschlimmerte die lokale Typhusepidemie.

Zurück nach Hause 

Im Frühjahr 1919 beschloss Kanada, die Soldaten des Expeditionskorps wieder abzuziehen. Die Einheimischen in Wladiwostok waren der ständigen Präsenz ausländischer Truppen in der Stadt überdrüssig. 

Abgesehen davon wurde zu Hause in Kanada die Kritik an dem Militäreinsatz immer lauter. 

Vor dem Abflug installierten die kanadischen Streitkräfte auf dem Seefriedhof von Wladiwostok noch eine Gedenktafel zu Ehren der 14 Kanadier, die bei der Mission ihr Leben verloren hatten. Die meisten starben an einer Krankheit, einer nahm sich das Leben. 

Die Einheimischen in Wladiwostok waren der ständigen Präsenz ausländischer Truppen in der Stadt überdrüssig.

Diese umstrittene Episode in der gemeinsamen russisch-kanadischen Geschichte endete im Juni 1919 mit der Abreise der Kanadier. 

In beiden Ländern wurden diese Ereignisse fast vergessen. Die Soldaten, die den Aufstand in Victoria angezettelt hatten, wurden letztendlich begnadigt. 

>>> Westliche Einmischung vor 100 Jahren: Wie Ex-Verbündete 1918 in Russlands Bürgerkrieg eingriffen

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