Die Erfahrung von Tschernobyl

Das Atomkraftwerk Tschernobyl. Foto: Veronika Dorman

Das Atomkraftwerk Tschernobyl. Foto: Veronika Dorman

Am 26. April 2013 wurde zum 27. Mal der Katastrophe von Tschernobyl gedacht. Im Gespräch mit RIA Nowosti erklärt Leonid Bolschow, Direktor des Instituts für Probleme der friedlichen Nutzung von Atomenergie an der Russischen Akademie der Wissenschaften, welche Bedeutung die Erfahrungen Russlands für die Welt haben.

Am 26. April 2013 wurde überall auf der Welt eines traurigen Jahrestags gedacht. Vor 27 Jahren kam es an diesem Tag im vierten Block des Atomkraftwerks Tschernobyl zum größten allzunehmenden Unfall, einer Nuklearkatastrophe. In den Jahren, die seit diesem Ereignis vergangen sind, konnten russische Wissenschaftler einzigartige Erfahrungen in der

Beseitigung der Folgen und der Vorhersage schwerer Atomreaktorkatastrophen sammeln. Diese Erfahrungen konnten zur Einschätzung der Folgen einer anderen Katastrophe genutzt werden, zum Beispiel der im japanischen Atomkraftwerk Fukushima-1. Wie bedeutend das russische Wissen im Bereich der friedlichen Nutzung von Atomkraft, insbesondere hinsichtlich kritischer Zustände, in der Welt ist, erläuterte im Gespräch mit der Nachrichtenagentur RIA Novosti Leonid Bolschow, Direktor des Instituts für Probleme der friedlichen Nutzung von Atomenergie an der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Herr Bolschow, wurden Sie aufgrund Ihrer Erfahrungen schon oft um Hilfe gebeten, wenn es um Krisensituationen in einem Atomkraftwerk ging oder auch darum, wie man sich auf einen schweren Reaktorunfall vorbereiten kann?

 Das Institut feiert in diesem Jahr seinen 25. Jahrestag, und von Anfang an haben wir unsere Erfahrungen mit vielen Organisationen in verschiedenen Ländern ausgetauscht. 1989 fand der erste inhaltsreiche Austausch zu allen Fragen der Katastrophe von Tschernobyl statt. Bereits seit vielen Jahren kooperieren wir mit dem französischen Institut für Strahlenschutz und Reaktorsicherheit, der amerikanischen Atomregulierungskommission NRC sowie der deutschen Gesellschaft für Reaktorsicherheit. Die Studie des französischen Centre Henri-Becquerel, im Rahmen derer die Explosion des Forschungsreaktors in Saclay bei Paris simuliert wurde, entstand auf der Grundlage eines Szenarios, das wir zusammen mit unseren französischen Kollegen mithilfe unserer Erfahrungen aus Tschernobyl entwickelt haben.

Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass nicht zuletzt die Erfahrungen aus Tschernobyl dabei geholfen haben, ein realistisches Bild zu reproduzieren. Das ermöglichte den Teilnehmern, sich die potenziell eintretenden Ereignisse besser vorzustellen. Das hat schließlich dazu beigetragen, schwerwiegende Mängel im französischen System bei der Reaktion auf Reaktorkatastrophen aufzudecken.

Für die USA haben wir eine große Anzahl komplizierter Computercodes zu Katastrophen in Atomkraftwerken optimiert. Das von uns ausgearbeitete Handbuch zur Unterstützung der Kommunikation mit der Öffentlichkeit und der Presse während einer Katastrophe erfreute sich in den USA einer großen Nachfrage.

Konnte denn die Erfahrung aus Tschernobyl in Fukushima genutzt werden?

Das ist eine schwierige Frage, zu deren Beantwortung man ein wenig in die Geschichte zurückgehen muss. Es ist nämlich so, dass während der vergangenen Jahrzehnte bei schweren Reaktorunfällen die Hauptaufgabe immer darin bestand, die Mitarbeiter des Atomkraftwerks und der im Umkreis der Anlage wohnenden Bevölkerung zu schützen. Die Erfahrung aus allen vorangegangenen Katastrophen, einschließlich der von Fukushima, zeigt jedoch, dass das Ziel nicht genau formuliert wurde.

Über den gesamten Zeitraum der Nutzung der Atomenergie hat sich gezeigt, dass die medizinischen Folgen wesentlich geringer sind als in jedem anderen Bereich der Energiewirtschaft oder Industrie – selbst wenn man alle uns bekannten schweren Unfälle berücksichtigt. Und nichtsdestoweniger werden Naturkatastrophen und Havarien in Industriegebieten von uns recht schnell wieder vergessen, wohingegen Reaktorunfälle für viele Jahre tiefe Spuren in der Geschichte des Landes und im Gedächtnis der Menschen hinterlassen. Die Ursache dafür liegt jedoch nicht bei den medizinischen Folgen, sondern darin, dass die gesamte Gesellschaft durch ein solches Ereignis aufgerüttelt wird, sowohl in sozialer, ökonomischer, psychologischer als auch in politischer Hinsicht.

Lassen Sie uns die Situation in Japan doch einmal näher betrachten: Die Bevölkerung in der Nähe des Atomkraftwerks Fukushima-1 hat durch die Katastrophe so gut wie nicht gelitten, die Strahlenbelastung der Zivilbevölkerung liegt nahezu bei null, was selbst konservative Organisationen anerkannt haben, zum Beispiel die Environmental Protection Agency, die US-amerikanische Behörde zum Schutz der Umwelt und zum Schutz der menschlichen Gesundheit, der ‚grünsten' der amerikanischen Regierungsorganisationen. Aber allmählich macht sich die Erkenntnis breit, dass das Schlimmste an der Katastrophe in einem Atomkraftwerk nicht die radioaktive Strahlung, sondern die ungleich größere Gefahr einer Panikreaktion in der Gesellschaft und eine übersteigerte Radiophobie sind."

 

Die ungekürzte Fassung dieses Beitrags erschien zuerst bei RIA Novosti.

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