Deutsche Erinnerungskultur kommt nach Russland

Ein „Stolperstein“ im Städtchen Kromy in der Region Orjol erinnert an die 1942 ermordete Agafja Kurenzowa. Foto: Peter Wetzel

Ein „Stolperstein“ im Städtchen Kromy in der Region Orjol erinnert an die 1942 ermordete Agafja Kurenzowa. Foto: Peter Wetzel

Seit diesem Sommer ist Russland um einen deutschen Export reicher, diesmal aus dem Bereich der Erinnerungskultur: In der Stadt Orjol und der nahe gelegenen Ortschaft Kromy verlegte der Erfinder der „Stolpersteine“, Gunter Demnig, Ende Juli die ersten vier Gedenksteine in Russland, um an zivile Opfer des Zweiten Weltkriegs zu erinnern. Russland HEUTE sprach mit Peter Wetzel, dem Initiator des Projekts.

Russland HEUTE: Herr Wetzel, Sie sind Pädagoge und leiten den Fachbereich Seniorenbildung bei der Bildungsvereinigung Sachsen-Anhalt. Was hat Sie nach Orjol geführt?

Peter Wetzel: Seit 16 Jahren kooperieren wir in der Erwachsenenbildung in Städten wie Kursk, Jaroslawl, Nowosibirsk und eben Orjol mit der russischen Organisation „Snanije". Die Organisation entspricht in etwa den Volkshochschulen in Deutschland und ist neben den Veteranenräten eine der wenigen Vereinigungen, in denen sich auch ältere Menschen zusammenschließen können. In unseren gemeinsamen Projekten wurde bald auf beiden Seiten großes Interesse an der Aufarbeitung der Kriegsvergangenheit signalisiert. Das hat damit zu tun, dass viele unserer Projektteilnehmer „Kinder des Krieges" waren und sind.

Nur dass auf der einen Seite Kinder der Sieger und auf der anderen Kinder der Angreifer und Kriegsverlierer standen...

 Das spielt für die Teilnehmer unserer Projekte kaum noch eine Rolle. Seit fünf Jahren läuft in der Region von Orjol das Projekt „Kriegskinder", gefördert von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft". Wir holen russische Zeitzeugen an deutsche Schulen, deutsche Zeitzeugen gehen in russische Organisationen, und sie erzählen, wie ein Krieg eben nicht nur Städte, sondern ganze Biografien zerstören kann. Bei einem dieser Besuche „stolperten" die Russen über Gedenksteine in Merseburg und Magdeburg. Und fragten: „Könnte man so etwas nicht auch in Orjol machen?"

Aber wie geht das mit der russischen, sehr patriotisch geprägten Erinnerungskultur zusammen?

 In Russland ist die Erinnerung an den Krieg, zumindest auf offizieller Ebene, tatsächlich sehr stark vom Heldengedenken geprägt. In vielen Städten stehen Denkmäler für Generäle oder einzelne militärische Einheiten. Die Zivilbevölkerung kommt bisher wenig vor. Aber dass unsere Partner diesen Wunsch geäußert haben, zeigt ja, dass es Bedarf gibt.

Orjol gehört zu den Gebieten, die noch immer sehr kommunistisch geprägt sind. Wie hat die lokale Verwaltung reagiert?

Der Bürgermeister von Orjol hat uns lange zugehört, hat sich Beispiele angeschaut, wie solche Stolpersteine in Deutschland aussehen, und am Ende legte er das Projekt dem Stadtrat vor. Der hat zugestimmt. Für das Gelingen unseres Projekts gibt es wohl zwei Hauptgründe: Wir sind schon

seit langer Zeit in Orjol aktiv und haben Partner, die uns Vertrauen schenken. Zum anderen haben wir es unseren Partnern von „Snanije" überlassen, die Menschen auszuwählen, derer wir mit den Stolpersteinen gedenken werden.

Und welche Menschen hat „Snanije" ausgewählt?

Zwei Steine sind jüdischen Kindern gewidmet, die von einer russischen Familie aufgenommen wurden, nachdem ihre Eltern vom NKWD verhaftet worden waren. Als die Deutschen kamen, wurden sie denunziert und ins Gefängnis verschleppt. Sie starben in einem der berüchtigten Gaswagen zur Ermordung von jüdischen Bewohnern der besetzten Gebiete.

Der dritte Stein ist einer jüdischen Kinderärztin gewidmet, die von den Deutschen ermordet wurde. Der vierte Stein erinnert an eine russische Ärztin, die in einem Lazarett arbeitete und heimlich den örtlichen Partisanen half. Als das aufflog, wurde sie von den Deutschen erschossen.


Erfinder der „Stolpersteine" Gunter Demnig in der Stadt Kromy bei Orjol. Foto: Peter Wetzel

Waren die örtlichen Veteranenverbände und Organisationen zufrieden mit dieser Auswahl?

Die fanden es ungewöhnlich, dass wir an Kinder und Frauen erinnern wollen – und nicht an Helden. Aber wir haben sie daran erinnert, dass von den 28 Millionen Toten der Sowjetunion zwei Drittel der Zivilbevölkerung angehörten. Und dass es ja schließlich für die Helden schon genug

Denkmale gibt. Am Ende war das Feedback positiv, besonders in den örtlichen Medien. Man verspürte auch einen gewissen Stolz, dass Orjol jetzt im „Teppich der Stolpersteine" ein Teil von Europa ist. Einige der mehr als 40 000 Gedenksteine wurden 
ja auch in Italien, Ungarn, in der 
Ukraine, Norwegen und anderen Ländern verlegt.

Gibt es noch weitere Pläne zur Verlegung von Stolpersteinen in Russland?

Wir ermutigen alle deutschen Organisationen, die Partner in Russland haben, solche gemeinsamen Projekte vorzuschlagen. Wir selbst planen, zum 70. Jahrestag des Kriegsendes 2015 fünf weitere Steine in Orjol zu verlegen. Mit Blick auf den Partner symbolisch für jedes Jahr der deutschen Besetzung der Sowjetunion einen Stolperstein. Allerdings ist viel Fingerspitzengefühl erforderlich: Man sollte die Steine zum Beispiel nicht am 9. Mai, dem offiziellen „Tag des Sieges", einweihen. In Orjol beispielsweise haben wir die Stolpersteine eine Woche vor dem 70. Jahrestag der Befreiung der Stadt verlegt. Mit ein wenig Distanz kann man da Konflikte vermeiden.

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