Foto: ITAR-TASS
Ein gemütliches Wohnzimmer mit eingebauter, moderner Küche, Spielsachen aller Art in jedem Zimmer, mehrere Schreibtische und einige Badezimmer. Wohnungen wie diese sind wohl der Traum jeder Familie. Doch diese Wohnung ist keine gewöhnliche, sondern ein Zentrum für familiäre Erziehung.
Solche Zentren entstehen derzeit in der gesamten russischen Hauptstadt und lösen Waisenhäuser in ihrer Funktion ab. Bereits im vergangenen Jahr wurden in Moskau fünf dieser Einrichtungen eröffnet, und in diesem Jahr sollen zwölf weitere folgen. In den Wohnungen leben die Kinder mit einer „Mama“ zusammen, die Atmosphäre hier ist vergleichbar mit der einer normalen Familie. Die Pflegemutter betreut die Kinder fünf Tage in der Woche und wird so fast zu ihrer echten Mutter.
Ein Bespiel ist die Familie von Natalja Zyganowa, eine „Mutter“ von zwölf Pflegekindern. Ihre Schützlinge kamen entweder hierher, weil den Eltern das Sorgerecht entzogen wurde, oder weil Waisenhäuser Empfehlungen für das
Wohnen in einem Zentrum ausgestellt haben. Die Waisenkinder wohnen immer gemeinsam mit ihren leiblichen Brüdern und Schwestern in einem Zimmer, damit sie nicht getrennt werden. So wird das Zentrum für sie zu einem neuen Zuhause, in dem sie leben, bis geeignete Pflegeeltern gefunden werden. Hier lernen sie auch ein normales Familienleben kennen und können sich an die familiäre Atmosphäre gewöhnen. „Manche Kinder tun sich am Anfang schwer dabei, sich einzugewöhnen. Doch nach und nach ‚tauen‘ sie auf, leben sich ein und beginnen, von sich zu erzählen“, sagt Natalja Zyganowa.
Moskauer Behörden unterstützen das Projekt
Vor nicht allzu langer Zeit hatte das Zentrum für familiäre Erziehung hohen Besuch: Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin besuchte die Pflegemütter und ihre Kinder.
„In diesem Jahr haben wir mehr als 800 Millionen Rubel (über 16 Millionen Euro) investiert, um Zentren, die sich um Waisenkinder kümmern, zu sanieren und deren Arbeit zu verbessern“, berichtet der Bürgermeister. Derzeit werden 15 Waisenhäuser renoviert, wovon fünf zu Zentren für familiäre Erziehung umstrukturiert wurden. Diese Zentren konzentrieren sich dabei nicht nur auf die Erziehung von Waisenkindern, sondern kümmern sich auch darum, neues Pflegepersonal zu finden und diese entsprechend zu schulen.
2013 fanden auf diese Weise 418 Kinder mehr als im Vorjahr ein neues Zuhause bei Pflegefamilien. Dem Moskauer Bürgermeister zufolge wird dieser positive Trend weiter anhalten, auch wenn die sogenannten „Härtefälle“, das heißt Jugendliche und Kinder mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung, in den Zentren zurückbleiben.
Doch auch die vermittelten Pflegekinder kehren häufig wieder in die Waisenhäuser zurück. Im Jahr 2013 war das 148 Mal der Fall, denn nicht alle Pflegeeltern sind der Herausforderung gewachsen.
Die Waisenkinder werden integriert
Im Zentrum für familiäre Erziehung „Nummer Eins“ leben unter anderem auch Kinder, deren Eltern das Sorgerecht für sie entzogen wurde. In ihrem neuen Zuhause wird, im Gegensatz zum Waisenhaus, alles getan, damit sie sich schnell einleben und wohlfühlen können. Sie besuchen reguläre Schulen, bekommen Sportunterricht, können selbst kochen und Wäsche waschen und dürfen Freunde zu sich nach Hause einladen.
Die Leiterin des Zentrums, Walentina Spiwakowa, erklärt, wie Eltern und deren Kinder in regulären Schulen und Kindergärten auf Waisenkinder aus ihrem Zentrum reagieren: „Im Grunde verhalten sich ihnen gegenüber alle normal. Viele Eltern bieten ihre Hilfe an und bringen Geschenke vorbei.“ Es komme allerdings auch vor, dass sich Eltern beschweren. „Diese Fälle sind jedoch sehr selten“, beschwichtigt die Direktorin sogleich und fährt fort: „Die Eltern regen sich dann meist darüber auf, dass unsere Schützlinge einen
schlechten Einfluss auf ihre Kinder hätten. Angeblich würden ihre Kinder Schimpfwörter von unseren Kindern lernen.“ Ihre Schützlinge seien nicht einfach, man müsse sich schon mit ihnen beschäftigen, räumt Spiwakowa ein. „Daher setze ich mich für unsere Waisenkinder immer so ein, wie ich das auch für meine eigenen Kinder tun würde. Den Eltern erkläre ich dann, dass wenn mein Kind unter schlechtem Einfluss stünde, ich als Elternteil etwas verschlafen hätte. Unseren Erzieherinnen lege ich eine solche Verhaltensweise ebenfalls ans Herz.“
Das Wichtigste sei aber, betont die Direktorin, „dass unsere Kinder in der Schule und im Sportunterricht nicht ausgegrenzt werden, dass man sie wie normale Kinder behandelt. Das glättet die Wogen nach einem Sturm am schnellsten.“
Das Konzept findet auch Kritik
Über nachhaltige Ergebnisse zu sprechen, sei derzeit noch verfrüht, meint Elena Alschanskaja, Leiterin der Stiftung „Freiwillige helfen Waisenkindern“ und Mitglied der russischen Gesellschaftskammer.
„Ich bin vollkommen dafür, dass es keine Kinderheime mehr geben soll. Doch unser Staat hat meistens leider nicht genug Geduld, um die Dinge bis zum Ende durchzuführen“, sagt die Expertin und erläutert: „Wir können uns sicher alle noch an die Familienhäuser, die in den 1980er-Jahren geschaffen wurden, und an die Pflegefamilien in den 90er-Jahren erinnern. All diese Initiativen wurden nie verwirklicht.“
Der Fokus der Zentren für familiäre Erziehung sollte Alschanskajas Ansicht
nach darauf liegen, die Kinder wieder zurück in ihre eigenen Familien zu bringen. „Erst wenn das nicht mehr möglich ist, sollte eine Pflege- oder Adoptivfamilie gesucht werden“, sagt sie. Auch am Konzept der Erzieherin als Pflegemutter übt sie Kritik: „Die Kinder binden sich an sie und sehen sie nach einer Zeit als ihre leibliche Mutter an. Schlussendlich werden sie dann aber wieder von ihr getrennt, was einen neuerlichen Verlust der Mutterfigur bedeutet. An dieser Stelle sollte man ehrlicher sein: Der Erzieher sollte der Erzieher bleiben und nicht zu einer Ersatzfigur werden, bis das Kind in eine neue Familie kommt.“
Würden Sie ein Waisenkind adoptieren?
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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