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Die Ereignisse in der Ukraine stehen bereits seit einiger Zeit an oberster Stelle der internationalen Tagesordnung und verdrängen alle anderen wichtigen Themen. Nicht verwunderlich, denn im März 2014 schloss sich erstmals seit dem Zerfall der UdSSR ein Teil einer früheren Sowjetrepublik einer anderen an, wodurch ein Präzedenzfall geschaffen wurde. Der Streit um die Krim löste zudem die größte Krise zwischen Russland und dem Westen seit dem Ende des Kalten Krieges aus. Dabei bedeutete der Beitritt der Halbinsel zu Russland noch nicht das Ende der Ukraine-Krise.
Die Ereignisse der letzten Monate haben jedoch nicht nur geopolitische Auswirkungen, auch andere Bereiche sind davon betroffen. Zu den heißesten Eisen gehören für Russland mitunter die Krimtataren. Laut dem Politologen Aleksej Makarkin „stellen die Krimtataren sogar das Hauptproblem für Russland auf der Krim dar. Es ist der einzige bedeutende Bevölkerungsteil der Halbinsel, der sich geschlossen gegen einen Beitritt der Krim an Russland ausgesprochen hat." Krimtatarische Aktivisten haben allerdings eine direkte Konfrontation mit Moskau vermieden. Doch welche Schwierigkeiten kommen hier wohl noch auf Russland und die Krimtataren auf ihrem Weg zu einer Integration und einem friedlichem Zusammenleben zu?
Die Geschichte der Krimtataren
Die Krimtataren sind ein Turkvolk, das vom 13. bis 17. Jahrhundert auf dem Gebiet der Krim ansässig war. Heute gibt es viele Spekulationen darüber, ob es zwischen den Krimtataren und den Tataren, die in Russland leben, eine Verbindung gibt. Die Krimtataren selbst sehen sich als „qırımlar", was zu Deutsch „Krimbewohner" bedeutet. Ajder Adschimambetow, Sprecher der Geistlichen Verwaltung der Muslimen auf der Krim, meint, die Krimtataren und die Tataren aus Russland seien „ein Brudervolk mit einer gemeinsam Geschichte". Doch „nichtsdestoweniger handelt es sich um zwei verschiedene Völker." Auch andere Krimbewohner sind dieser Meinung, wie zum Beispiel die Rentnerin Diljara Seitiliewa aus Bachtschyssaraj: „Die russischen Tataren und die Krimtataren sind zwei unterschiedliche Völker. Sie haben sich in verschiedenen Gebieten komplett eigenständig entwickelt." Die tatarischen Khanate, die auf dem Gebiet des heutigen Russlands liegen, standen 1552 und 1556 unter russischer Regentschaft, und die krimtatarischen Khanate waren von 1441 bis 1783 Vasallen des Osmanischen Reichs.
Ende des 17. Jahrhunderts kam es nach dem Manifest der Zarin Katharina II. vom 8. April 1783 zur Auflösung des Khanats auf der Krim. Für die Bewohner der Halbinsel setzte eine russische Periode ein. Der Großteil der Krimtataren wanderte damals hinter die Grenzen des Osmanischen Reichs
aus und lebte dort von 1790 bis in die 1850er-Jahre. In den 1920er- und 1930er-Jahren trug die sowjetische Regierung dann einiges zur Entwicklung einer nationalen Kultur der Krimtataren bei. So proklamierte man in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik die autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Krim, wo Krimtatarisch neben Russisch zur Amtssprache wurde. Man setzte sich zudem stark für die Förderung von Schulen und der Presse in krimtatarischer Sprache ein. Doch im Jahr 1937, in der Zeit des „großen Terrors", fielen viele Vertreter der nationalen Intelligenzija den Repressionen zum Opfer.
Im Mai 1944 wurden die Krimtataren zusammen mit einigen anderen Krim-Völkern wie die Griechen, Bulgaren und Armenier von der Halbinsel vertrieben, was zu einem dunklen Meilenstein in der Geschichte der Krimtataren wurde. Erstens wurde dadurch der „Grundstein" für ihren ethnischen Status als Minderheit gelegt. Zweitens führte dies dazu, dass sich bei den Krimtataren eine gewisse Phobie gegen Russland entwickelte, die auch heute noch bei den auf der Halbinsel lebenden Tataren besteht. Und in dieser Phobie werden die Gründe für die Befürchtungen liegen, die die Krimtataren hinsichtlich der Angliederung an Russland haben. Gerade auch, weil im Gegenteil zu anderen Völkern, die auf eine ähnliche Geschichte zurückblicken, die Krimtataren während der „Tauwetterperiode" unter Nikita Chruschtschow nicht in ihre Heimat zurückgeführt wurden. Um diese Rückkehrerlaubnis mussten die Krimtataren lange Jahre, bis zum Ende der „Perestroika", kämpfen.
Nicht alle Tataren sind gegen Russland
Dabei gibt es allerdings einige Details, die nicht außer Acht gelassen werden können. Denn viele Experten sehen in der krimtatarischen Gesellschaft eine fast vertikal ausgerichtete politische Kraft. Doch das ist
so nicht korrekt. Sicherlich, heute wird als stärkste Organisation der Krimtataren das Selbstverwaltungsorgan Medschlis betrachtet. Jedoch sind bei Weitem nicht alle Krimtataren der Ansicht, dass es das einzige Organ ist, das sich für ihre nationalen Interessen einsetzt. So versuchte beispielsweise Jurij Osmanow bereits in den 1990ern, eine Alternative zum Medschlis zu gründen: Im Gegensatz zu seinen Opponenten setzte sich Osmanow dafür ein, bessere Beziehungen zu Russland zu pflegen.
Als Alternative kann auch die Nationale Partei Milli Firka gesehen werden, die 2006 von einer Gruppe krimtatarischer Aktivisten gegründet wurde. Der Parteivorsitzende Waswi Abduraimow sprach sich für das Märzreferendum aus, wodurch er sich einerseits als Befürworter der eurasischen Integration und andererseits als Gegner der neuen Regierung in Kiew positionierte. Viele Bürger der Krim sind in dieser Hinsicht eher Pragmatiker, beispielsweise auch die Rentnerin Seinileewa, die der Meinung ist, dass „Russland derzeit dazu gezwungen ist, den Krimtataren gewisse Privilegien einzuräumen".
Pragmatismus ist gefordert
Heute setzt sich das „Problem" Krimtataren aus einer Reihe verschiedener Problemfelder zusammen: die territoriale Verteilung des Landes, die Repräsentanz der Krimtataren in der Regierung, die Beziehungen zur
Ukraine und schließlich die Frage über die Formierung von Beziehungen zwischen Staat und Religion. Nach Angaben von Adschimambetow werde „der Großteil der Unterstützung, die in nächster Zeit vonseiten des russischen Muftirats hinsichtlich der Krimtataren geleistet werden wird, die Anpassung an das russische Recht sein."
All diese Problematiken können nur dann gelöst werden, wenn von allen Seiten der Wille dazu besteht. Allerdings wird dies von allen Beteiligten einfache Lösungen, viel Pragmatismus und Kompromissbereitschaft abverlangen. Wenn pragmatisch auf dieses Ziel hingearbeitet und die Latte nicht zu hoch gelegt wird, dann stehen die Chancen gut, dass sich die inzwischen russische Krim in ein Vorzeigemodell entwickelt – wo sowohl in ethnischer als auch in religiöser Hinsicht Einheit herrscht.
Sergej Markedonow ist Dozent am Institut für internationale Regionalwissenschaften und Außenpolitik der Staatlichen Russischen Universität für Geisteswissenschaften. Der Text entstand unter der Mitwirkung von Andrej Raskin.
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