Die letzten Tage von der Kirche der Heiligen Maria in Saratow im Jahre 1974. Foto: oldsaratov.ru
Im 18. Jahrhundert war die Wolgaregion von deutschen Auswanderern besiedelt. Von dieser Vergangenheit zeugen heute noch Kirchenbauten in lutherischer Tradition. Die mittlerweile baufällig gewordenen Gebäude stechen unter den ebenerdigen Bauernhäuschen hervor, die heute längst wieder von Russen bewohnt werden, oder stehen einsam und verlassen dort, wo früher Dörfer waren, heute aber nur noch Ödland ist.
Im kleinen Dorf Sorkino steht die Ruine der Jesus-Kirche. Sie ist vom Wolgaufer und von der Fernstraße Saratow-Wolgograd aus gut sichtbar. Die ersten Siedler aus Deutschland folgten der Einladung Katharinas der Großen, die sich durch die Ausländer ein Wachstum der Bevölkerung versprach. Sie erreichten den Ort im Jahr 1767 und nannten die neue Heimat „Zürich“.
Die Siedler waren mehrheitlich evangelisch-lutherischen Glaubens und bauten zunächst eine Kirche aus Holz. Mit der Zeit wuchs die Bevölkerung Zürichs auf 5 000 Einwohner an und sprengte die Kapazitäten des provisorischen Holzbaus. Die Siedler beschlossen daher den Bau einer neuen Backsteinkirche. Diese sollte nicht so schlicht werden wie die alte Holzkirche, und daher sollte der Neubau sich am Stil des deutschen Architekten Johann Eduard Jacobsthal orientieren. Von Jacobsthal stammten die Pläne für die Berliner Bahnhöfe Alexanderplatz und Bellevue.
„Die typische Architektur lutherischer Kirchen war geprägt von der Bauweise des Architekten Guido Lagus“, erzählt die Historikerin Olga Litzenberger. Die einander sehr ähnlichen Backsteinbauten, deren Fassade ringsherum von Säulen eingefasst war, fanden sich in fast jedem deutschen Dorf und erinnerten äußerlich an orthodoxe Kirchen. „Die Einwohner von Zürich wollten sich aber von den anderen Dörfern abheben. Sie bauten die neue Kirche daher im neoromantischen Stil, der in der deutschen Diaspora Anfang der 1830er-Jahre in Mode gekommen war“, so die Historikerin.
An die Zeichnungen von Jacobsthal für den Kirchneubau in Zürich gelangte Litzenberger durch Zufall. Die alten, zwei Meter großen Blätter mit den Entwürfen verstaubten auf dem Dachboden eines Saratower Bürgers, bevor der Historiker Igor Plew sie kaufte und Kollegen überließ. Litzenberger erkannte am unteren Rand der Zeichnungen die Signatur von Jacobsthal und das Datum der Kirchengründung in Sorkino: Es war das Jahr 1873.
Kirche der Heiligen Maria in Saratow (auf dem Foto) wurde nach demselben Entwurf wie Jesus-Kirche in Sorkino errichtet. Foto: oldsaratov.ru |
Im Laufe ihrer weiteren Beschäftigung mit den Bauplänen stellte die Historikerin fest, dass derselbe Entwurf auch in der Hauptstadt der Wolgaregion, in Saratow, umgesetzt wurde. Anfangs war die dortige Kirche der Heiligen Maria das Zentrum der evangelisch-lutherischen Gemeinde des gesamten Gebiets Saratow. Mit der Machtübernahme der Bolschewiki verlor die Kirche jedoch ihre Bedeutung. Nach und nach wurden Gemeindeschulen geschlossen, und das Leben der deutschen Gemeinde war zunehmend der Kontrolle der neuen Regierung ausgesetzt. Viele deutsche Kolonien nahmen russische Namen an. Damals wurde Zürich zu Sorkino.
Im Jahr 1918 begannen die Bolschewiki die Kampagne zur Enteignung von Kirchengütern. Aus den Kirchen verschwanden nacheinander nicht nur die Ikonen und Glocken, sondern auch die Bücher. Um den Gottesdienst feiern zu können, versteckten die Pastoren vor den Durchsuchungen die Kelche für die Kommunion. Innerhalb von zehn Jahren wurden fast alle Inhaber von Kirchenämtern wegen „konterrevolutionärer Tätigkeit“ verurteilt, erschossen oder verbannt.
Die Kirche der Heiligen Maria in Saratow zerstörten die neuen Machthaber schrittweise. Zuerst wurde der hohe Kirchturm abgerissen. In das Gebäude zogen eine Niederlassung der sowjetischen Staatsbank „Gossbank“, danach die Philharmonie und schließlich ein Puppentheater ein. Im Jahr 1970 fiel die Kirche dem Abrisshammer endgültig zum Opfer. Heute steht an ihrer Stelle eines der Gebäude der Agraruniversität von Saratow.
Ab 1935 verschwanden auch aus Sorkino Orgel und Kirchturm. „Das Kreuz auf dem Dach der Kirche wurde von einer Seite zurechtgesägt, um es besser umreißen zu können. Man befestigte an ihm ein Seil, das mit einem Hebelzug vor der Schule, gegenüber der Kirche, verbunden war“, erzählt Dorothea Gerlitz, damals eine zehnjährige Schülerin und Bewohnerin des Dorfes. „Wir hatten gerade Unterricht, als betrunkene Vertreter der Regierung anfingen, den Hebelzug zu drehen. Wir verfolgten das alles vom Schulfenster aus.“ Später wurde Gerlitz Zeugin, wie das Kirchengebäude zu sowjetischen Zeiten zunächst als Getreidespeicher genutzt wurde, wie man es danach in eine Maschinen-und-Traktoren-Station umrüstete und Ende der siebziger Jahre dort schließlich ein Dorfkulturhaus eröffnete und Filme zeigte.
Der russische Bauherr und Architekt Karl Loor bereiste im Jahr 2006 Sorkino. Loor wuchs in einer Familie von Russlanddeutschen auf, die aus der Wolgaregion nach Sibirien verbannt worden war. Er kam nach Sorkino in der Hoffnung, das ehemalige Wohnhaus seiner Familie zu finden. Im Dorf angekommen, beschloss Loor, die Kirchenruine zum Andenken an seinen Vater wiederherstellen zu lassen.
Der russische Bauherr Karl Loor (links) ließ die Kirchenruinen in Sorkino wiederherstellen. Foto: Volojka
Die Einwohner von Sorkino jedoch, so Loor, reagierten mit Zurückhaltung auf seine Initiative. Die Gründe vermutet der Architekt in der kommunalen Regierungspolitik der vergangenen zwanzig Jahre. „Unter Jelzin kam die Idee einer Wiedererrichtung der Wolgadeutschen Republik auf“, erklärt Loor. „Um das zu verhindern, redete man den Leuten ein, die zugereisten ‚Deutschen‘ würden fremde Häuser beziehen und Einheimischen die Arbeitsplätze wegnehmen.“
Als er begriff, dass die heutigen 750 Einwohner von Sorkino keine lutherische Kirche haben wollen, versuchte Loor sein Glück mit anderen Argumenten. Er schlug vor, die Kirche als Architekturdenkmal wiederherzustellen und in ihren Räumen ein Kulturzentrum zu eröffnen. Hier sollen Kinder, die mehr als die Hälfte der Dorfbewohner ausmachen, die Möglichkeit haben, im Chor zu singen, zu malen und sich mit der Geschichte ihres Heimatdorfes zu befassen. Seine Initiative hatte Erfolg.
Die Arbeiten zur Wiedererrichtung des Kirchenbaus in Sorkino am 1. November 2013. Foto: wolgadeutsche.net
Finanziell bringe das Projekt Loor nur Verluste, doch es sei eine Herzensangelegenheit. „Das Projekt könnte das aussterbende Dorf am Leben erhalten und Arbeitsplätze schaffen“, hofft er. Die Arbeiten zur Wiedererrichtung des Kirchenbaus sollen 2017 abgeschlossen sein. Und obwohl es auch eine Orgel und einen Ort für Gebete geben wird, sind keine regelmäßigen Gottesdienste in Sorkino geplant. Die Gemeindemitglieder fahren traditionell in die lutherische Kirche der Stadt Marx. Die Geschichte dieses Gotteshauses hat auch ihre dunklen Kapitel. Auf einem Foto aus den siebziger Jahren prangt auf seinem Dach statt eines Kreuzes in leuchtendem Rot die Losung: „Ruhm der KPdSU!“
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