Deutsche in Russland: Vom Feind zum Freund

Gedenken in Jekaterinburg. Foto aus dem persönlichen Archiv.

Gedenken in Jekaterinburg. Foto aus dem persönlichen Archiv.

Als Kriegsgefangener lebte Gerhard Schliephake aus dem hessischen Mörfelden-Walldorf einige Jahre in der Sowjetunion. Doch trotz der Scheußlichkeiten der Gefangenschaft verbringt der 89-Jährige heute fast jedes Jahr seinen Urlaub in Russland.

Wann und unter welchen Umständen sind Sie zum ersten Mal nach Russland gekommen? 

Ich bin am 8. Mai 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft gekommen. Kurz darauf haben mich die Amerikaner jedoch gemeinsam mit 100 000 anderen Soldaten an die Rote Armee übergeben. Es gab da wohl ein Abkommen. Ich bin nach Solikamsk im Ural gekommen und verbrachte dort zwei Jahre. Später kam ich dann nach Perm und lebte bis Weihnachten 1949 dort.

Welche Arbeiten mussten Sie in Russland verrichten?

In Russland habe ich unter anderem als Holzfäller, im Straßenbau und im Transportwesen gearbeitet. Zusätzlich habe ich mir mit der Reparatur von Radios, was schon immer mein Hobby war, ein zusätzliches Einkommen verschafft. Dadurch habe ich eigentlich ganz gut gelebt.

Als ich dann im Januar 1950 nach Hause gekommen bin, habe ich das Studium der Elektrotechnik – ich bin Elektroingenieur – in Darmstadt wieder aufgenommen. Mit dem Studium hatte ich noch 1942 angefangen. Ich habe sehr früh Abitur gemacht, daher konnte ich noch vor dem Militärdienst anfangen zu studieren. 1954 beendete ich mein Studium und bin nach West-Berlin gegangen, wo ich 21 Jahre lang als Ingenieur in einer großen Firma tätig war.

Und was hat Sie wieder nach Russland geführt?

Irgendwann bekam ich ein Angebot, mit meiner Familie nach Moskau zu

gehen, um eine Firmenvertretung der AEG, für die ich damals gearbeitet habe, wieder aufzubauen. Diese war während des Ersten Weltkriegs geschlossen worden. Man sagte zu mir: „Sie kennen Russland, Sie können Russisch.“

Haben Sie Ihre Familie nach Moskau mitgenommen? 

Ja, meine Kinder waren noch klein und es gab eine deutsche Schule in Moskau. Meine Frau war Lehrerin für Englisch und Französisch, sprach aber auch Russisch. So hatten wir keine Schwierigkeiten, uns in Moskau zurechtzufinden. Das waren auch für unsere Kinder vier sehr schöne und interessante Jahre. 1979 bin ich nach Deutschland zurückgekommen und wurde zum Leiter der Osteuropa-Abteilung des gesamten Unternehmens. 1988 bin ich dann in Rente gegangen. Insgesamt habe ich zwölf Jahre in Russland beziehungsweise in der Sowjetunion verbracht.   

Seitdem besuchen Sie Russland fast jedes Jahr. Warum eigentlich? Es gibt doch auch viele andere schöne Orte in Europa und auf der ganzen Welt. Warum fahren Sie nicht nach Süditalien oder in die österreichischen Alpen?

Die Frage habe ich erwartet. Mein Schicksal ist schon lange mit Russland verbunden. Nicht immer, das muss ich deutlich sagen, waren meine Erfahrungen angenehm. Aber ich liebe die russische Mentalität, die russische Sprache, das russische Leben. Ich bekam nach meiner Pensionierung vor 16 Jahren noch einmal die Gelegenheit, als Chef einer AEG-Fabrik nach Russland zu gehen, in die Stadt Jekaterinburg am Ural. Ich verstand mich sehr gut mit meinen russischen Kollegen. Nach dem Ende meines Engagements haben sie mir einfach gesagt: „Du bist unser Freund, komm wieder hierher.“

Hatten Sie außer Ihren Arbeitskollegen noch andere Russen kennengelernt? 

In Jekaterinburg habe ich innerhalb von wenigen Monaten einen großen Bekanntenkreis aufbauen können, mit dem ich heute noch im ständigen Kontakt stehe. Darunter sind Funkamateure, ein Dekan der juristischen Fakultät, die Beauftragten für die Kriegsgräberfürsorge im Mittelural, eine Familie von Kunstmalern, deren Sohn sieben Jahre lang in Deutschland gelebt hat. Mein Bekanntenkreis zieht sich also durch alle Bevölkerungsschichten. Deswegen habe ich einen sehr guten Einblick, wie man in Russland heute lebt, leben kann, leben muss. Ich habe gesehen, wie phänomenal sich das Land in den letzten 20 Jahren entwickelt hat. Und es macht mir großen Spaß, Russisch zu sprechen, obwohl alle meine Bekannten auch Deutsch oder Englisch verstehen.

Wie hat sich das Land seit Ihrem ersten Besuch verändert? Was ist jetzt anders?

Besonders auffällig ist die größere persönliche Freiheit. Auch gibt es im täglichen Leben mehr Freizügigkeit. Außerdem geht es der Bevölkerung jetzt besser als vor 40 Jahren. Politisch bin ich momentan jedoch etwas gespalten. Die letzten zwei bis drei Wochen waren sehr kompliziert. Man hat die Verhandlungswege verlassen, und Ruhe hat es bis jetzt nicht gegeben, trotz der Gespräche in Genf.

Haben Sie nie darüber nachgedacht, ganz nach Russland zu ziehen?

Ja! Das ist aber sehr lange her, am Ende meiner Gefangenschaft habe ich darüber nachgedacht.

Sie haben auch ein Buch über Russland geschrieben. Worum geht es in dem Buch?

Ich bin am 23. Februar 1925 geboren und gehöre einem Jahrgang an, der langsam ausstirbt. Mittlerweile bin ich in einem Alter, in dem die meisten Freunde entweder nicht mehr leben oder nicht mehr in der Lage sind, sich ausreichend deutlich zu artikulieren. Die Geschichte der Sowjetunion direkt nach dem Krieg sowie das Schicksal der drei Millionen deutschen Kriegsgefangenen sind interessant und geraten oft in Vergessenheit.

In meinem Buch geht es nicht um die Scheußlichkeiten der Gefangenschaft und die bösen Politruks, die uns damals drangsaliert haben. Vielmehr ist es ein Buch über das Leben in diesem großen Gefängnis. Das ist ein ganz persönlicher Bericht mit sehr privaten Details. Das letzte Buch über diese Zeit ist vor fünfzehn Jahren erschienen, mit Bildern, die ich teilweise übernommen habe. Aber ich habe auch neue Bilder in den Bibliotheken von Jekaterinburg gefunden. Erst durch die Bilder wird ein solcher Bericht lebendig. 

 

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