Neue Heimat: Der russische Alltag ukrainischer Flüchtlinge

Alexander Sanotschkin (in der Mitte) mit den Flüchtlingen aus der Ukraine vor seinem Ferienhaus in Artjomowskij. Foto: Darja Kesina/RBTH

Alexander Sanotschkin (in der Mitte) mit den Flüchtlingen aus der Ukraine vor seinem Ferienhaus in Artjomowskij. Foto: Darja Kesina/RBTH

Viele Flüchtlinge sind aus der Ukraine nach Russland gekommen und leben nun über das ganze Land verteilt. Sie sind froh, den Wirren des Krieges entkommen zu sein, obwohl bürokratische Hürden den Neuanfang erschweren. Dafür gibt es Unterstützung durch zahlreiche hilfsbereite russische Bürger.

Das Gebiet Swerdlowsk liegt im Mittelural, anderthalbtausend Kilometer von der russisch-ukrainischen Grenze entfernt, eigentlich weit weg von der Krise. Doch auch hier sind die Folgen der Auseinandersetzungen in der Ukraine zu spüren. Nachdem zahlreiche Menschen aus den umkämpften Gebieten nach Russland geflohen sind, wurden die in unmittelbarer Nähe zur ukrainischen Grenze gelegenen russischen Städte der großen Flüchtlingszahl nicht mehr Herr. So wurden Flüchtlinge schließlich auch im Ural untergebracht. Das traf die Region völlig unerwartet.

Juri Saweljew ist der Vorstandsvorsitzende der Russischen Nationalen Kulturautonomie. Er hilft den Flüchtlingen ehrenamtlich bei der Vermittlung von Unterkünften und Arbeitsplätzen. Saweljew hat eine Liste mit mehr als 140 Arbeitgebern, die bereit wären, Flüchtlinge aus der Ukraine anzustellen. Besonders gefragt sind Fachkräfte wie Bauarbeiter, Friseure, Bäcker, Köche, Kraftfahrer, Ingenieure oder Programmierer. Auf einer anderen Liste stehen die Namen Dutzender, die bereit wären, Flüchtlinge bei sich zu Hause aufzunehmen. Saweljew hat auch ein Verzeichnis von Freiwilligen, darunter auch Abgeordnete oder Juristen, die die Ukrainer bei Behördengängen unterstützen, Schulkindern Nachhilfe erteilen oder medizinische Hilfe anbieten.

 

Große Hilfsbereitschaft und bürokratische Hürden

„Die Einheimischen bringen von zu Hause warme Kleidung, Lebensmittel, Haushaltselektronik und andere wichtige Alltagsgegenstände mit", berichtet Juri Saweljew von der beeindruckenden Hilfsbereitschaft der Russen. Er selbst hat eine Waschmaschine bereitgestellt.

Jeder der Flüchtlinge findet ein Dach über dem Kopf, entweder auf dem privaten Wohnungsmarkt oder in öffentlichen Wohnheimen. Auf das Spendenkonto zur Unterstützung der Flüchtlinge aus der Ukraine haben die Bewohner des Gebietes bereits mehr als drei Millionen Rubel (etwa 60 000 Euro) überwiesen.

Bei der Arbeitsvermittlung gibt es ebenfalls keine Probleme. „Die Jobbörse kümmert sich um die Flüchtlinge aus der Ukraine und hat zu deren Betreuung eigens Mitarbeiter abgestellt. In unserem Gebiet gibt es ungefähr 56 000 freie Arbeitsplätze", erklärt Saweljew. Die härteste Zeit für die Flüchtlinge sind die ersten 60 Tage ihres Aufenthalts in Russland. Solange dauert es im Schnitt, bis die vorübergehende Aufenthaltserlaubnis ausgestellt ist, ohne die keine Arbeit aufgenommen werden darf.

Alexander Sanotschkin ist im Ural wohl bekannt, er gilt als einer der besten Trainer der russischen Kampfsportart Sambo. Er wohnt und arbeitet in Jekaterinburg. Einer Flüchtlingsfamilie aus dem Gebiet Lugansk stellte er sein Ferienhaus in der Stadt Artjomowskij, die 94 Kilometer von Jekaterinburg entfernt liegt, zur Verfügung, und seine Verwandten überließen der Familie ihren Kleinbus. „Ich habe ihnen gesagt, dass sie dort so lange

wohnen können, wie sie wollen, und sich erst einmal einrichten sollen", erzählt Sanotschkin. Er kann sich gut in die Lage der Familie hineinversetzen: „Ich kann mir vorstellen, wie schwer es den Leuten fällt, bei null anzufangen, und habe geholfen, so gut ich konnte."

Die Familie, der er geholfen hat, kam aus Tscherwonopartisansk, der Stadt der Bergarbeiter, die im russisch-ukrainischen Grenzgebiet liegt. Der 29-jährige Bergmann Wladimir kam mit seiner schwangeren Frau, den zwei- und fünfjährigen Söhnen und seinem 21-jährigen Cousin, der wie er Bergmann ist, hierher. Als die Panzer und die ukrainischen Freiwilligenbataillone in die Stadt vorrückten, nahmen die Cousins die Kinder, überquerten im Auto die russische Grenze und fuhren bis Jekaterinburg. Hier half ihnen der Leiter des Hauses der russisch-ukrainischen Freundschaft, Pjotr Schtscherbina, Fuß zu fassen. Den ersten Monat kam die Familie in einem Auffanglager für Flüchtlinge in Kamensk-Uralsk unter. Zunächst wurde die Familie medizinisch untersucht, anschließend mussten verschiedene Behördengänge erledigt werden. Dabei boten russische Ehrenamtliche Unterstützung.

„Hier haben die Menschen ein großes Herz für die ukrainischen Flüchtlinge. Nachbarn helfen mit allen möglichen Sachen aus, erklären, wo man etwas dazuverdienen kann, bringen Kartoffeln, Zwiebeln und Pilze", erzählt Wladimir. Die größte Hürde bei ihrem Neuanfang sei für ihn und seinen Cousin die lange Wartezeit auf die vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung. So versuchen die beiden den Lebensunterhalt durch Hilfsarbeiten zu sichern. Sie führen bei den Nachbarn Reparaturarbeiten aus oder transportieren Frachtgüter.

 

Studienplätze gibt es viele, Krippenplätze nicht

Unter den Flüchtlingen befinden sich viele Kinder. Mit Beginn des russischen Schuljahres am 1. September stellte sich die Frage, wie die ukrainischen Flüchtlingskinder unterrichtet werden könnten. Dabei gebe es nach Auskunft des Büros des Kinderschutzbeauftragten für das Gebiet Swerdlowsk aber keine Schwierigkeiten, sie besuchen den normalen Schulunterricht. Studenten erhalten an einer Reihe von Hochschulen kostenlose Studienplätze. Dabei engagieren sich besonders die Föderale Ural-Universität und die Ural-Universität für Forstwirtschaft.

Swetlana Maximkina floh zusammen mit ihrer Mutter und ihrer 20-jährigen Tochter Anna vor drei Monaten aus Donezk. Während sie noch auf ihre vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung warteten, erhielt Anna dank der

Unterstützung Juri Saweljews einen kostenlosen Studienplatz an der Staatlichen Wirtschaftsuniversität des Ural. Nun haben Mutter und Tochter vor, die russische Staatsbürgerschaft zu beantragen.

Mit der Unterbringung von Kleinkindern in Kitas sieht es dagegen viel schlechter aus. Freie Plätze gibt es praktisch nicht, selbst die Einheimischen stehen oft jahrelang auf Wartelisten. Während man für ein fünfjähriges Kind noch durchaus Chancen auf einen Kindergartenplatz hat, ist es nahezu aussichtslos, einen Zweijährigen in der Kinderkrippe unterzubringen. Die Behörden machten den Vorschlag, die Flüchtlingsfamilien sollten ihre Kinder doch einfach abwechselnd selbst betreuen. Das ist leichter gesagt, als getan. Anna, eine 38-Jährige aus Tscherwonopartisansk, die Mitte Oktober ihre Aufenthaltsgenehmigung bekommen wird, musste eine angebotene Arbeitsstelle ablehnen, da sich niemand fand, der auf ihren Sohn aufgepasst hätte. Und eine private Betreuung ist mit den niedrigen Löhnen von etwa 10 000 Rubel (etwa 200 Euro) auch kaum zu bezahlen.

Anna mit dem Sohn. Foto: Darja Kesina/RBTH

Anna und ihr Sohn leben zurzeit in einem Betriebssanatorium, wo sie auch verpflegt werden. Auch eine medizinische Betreuung gibt es hier. Der Betriebsrat des Unternehmens lässt der Flüchtlingsfamilie darüber hinaus wöchentlich 1 000 Rubel (etwa 20 Euro) für die alltäglichen Ausgaben zukommen. Anna und ihr Sohn hatten die Ukraine lediglich mit zwei Taschen verlassen, in denen überwiegend leichte Kleidung war. Nun sind sie froh über jede Hilfe. Anna hätte nie gedacht, dass sie einmal so weit weg von der alten Heimat landen würde, doch an Rückkehr denkt sie nicht. Anna sieht die Zukunft für sich und ihr Kind in Russland: „Ich möchte die russische Staatsbürgerschaft beantragen und hier bleiben", sagt sie.

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