Russen halten Putin für demokratischsten Politiker

Einer Befragung zufolge können nur wenige Russen Demokratie erklären. Foto: ITAR-TASS

Einer Befragung zufolge können nur wenige Russen Demokratie erklären. Foto: ITAR-TASS

Einst nannte Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder Wladimir Putin einen „lupenreinen Demokraten“ und sorgte damit für Empörung im Westen. Die Russen sind allerdings Schröders Meinung. Dabei kann ein Drittel der Russen den Begriff gar nicht erklären, wie eine neue Befragung zeigt. Wissenschaftler fordern mehr politische Bildung.

Die russische Stiftung Öffentliche Meinung (FOM) hat eine Studie zum Demokratieverständnis der Russen veröffentlicht. Der Mehrheit der Russen ist es demnach zwar wichtig, dass Russland ein demokratisches Land ist, doch was sich hinter dem Begriff Demokratie verbirgt, ist vielen nicht klar. So konnte ein Drittel der Russen nicht erklären, was Demokratie bedeutet.

Olga Kryschtanowskaja, Leiterin des Meinungsforschungszentrums Kryschtanowskaja-Laboratorium, macht dafür Mängel im Bildungssystem verantwortlich. „Am Ende der Schulzeit sollte jeder Schüler wissen, was Demokratie bedeutet", findet die Soziologin. Denn dann könne man sich selbst eine Meinung darüber bilden, ob Russland den Kriterien einer Demokratie entspreche. „Laut Unesco-Definition gibt es acht Kennzeichen einer Demokratie, darunter freie Wahlen, Pressefreiheit und eine Regierung, die kontrolliert werden kann", erklärt Kryschtanowskaja.

 

Der Demokratiebegriff ist teilweise negativ besetzt

Auf die Frage, ob die Strukturen in Russland ausreichend demokratisch seien, antwortete ein Drittel mit ja, ein weiteres Drittel konnte die Frage nicht beantworten. Für viele Russen, sagt Kryschtanowskaja, sei Demokratie gleichbedeutend mit Freiheit. Und mit Freiheit verbinden die Russen die Jelzin-Ära, die, so die Soziologin, „im Chaos mündete". Jelzin galt als schwache Führungspersönlichkeit, die russische Wirtschaft war ebenfalls schwach. „Demokratie hat daher bei vielen Russen heute ein schlechtes Image", erklärt Kryschtanowskaja.

Nach Angaben der FOM verstehen 43 Prozent der Russen unter Demokratie Glasnost sowie Meinungs- und Pressefreiheit, freie Wahlen und die Einhaltung von Menschenrechten. Nur zwölf Prozent bringen mit Demokratie die Bedeutung „Volksherrschaft" in Verbindung. Irina Ossipowa, Mitarbeiterin bei FOM, erklärt gegenüber RBTH, dass die Mehrheit der Russen mit dem abstrakten Begriff nichts anfangen könnten, für sie sei wichtiger, wie demokratische Strukturen sich auf ihr Leben auswirkten, welche Erscheinungsformen Demokratie im Alltag zeige. Die Schwierigkeiten der Russen mit einer abstrakten Definition erklärt Ossipowa damit, dass Gesellschaftswissenschaften wie Soziologie erst seit Kurzem in den Schulen unterrichtet würden.

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In den Jahren 2007 und 2010 hatte das Meinungsforschungsinstitut WZIOM bereits Umfragen zum Demokratieverständnis der Russen durchgeführt. Damals verbanden noch 55 Prozent der Befragten mit Demokratie Werte wie Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit. Wohlstand galt für 44 Prozent als Merkmal einer demokratischen Gesellschaft. Rechtssicherheit und freie Wahlen galten 2010 für 21 beziehungsweise 18 Prozent der Russen als Demokratiemarker. Damals galt aber auch für immerhin elf Prozent der Russen Demokratie lediglich als „leeres Geschwätz". Heute ist der Begriff nur noch für zwei Prozent eindeutig negativ besetzt.

 

Putin und Breschnew sind die demokratischsten Politiker

FOM fragte die Russen, in welchem Zeitraum der russischen Geschichte ihrer Meinung nach weitestgehend Demokratie geherrscht habe. Diese Frage konnten 37 Prozent nicht beantworten. Olga Kryschtanowskaja erklärt das mit mangelhafter politischer Aufklärung der Bevölkerung. Die historischen Epochen versuchten die meisten Russen intuitiv einzuordnen, ohne eine abstrakte Vorstellung vom Demokratiebegriff zu haben, so die Soziologin. „Demokratie verstehen die Menschen als etwas Gutes und Erstrebenswertes und teilweise auch als etwas, das aus dem Westen gekommen ist", sagt sie.

Mehr als ein Drittel der Russen ist der Meinung, dass die Regierungszeit von Wladimir Putin die bislang demokratischste Epoche in Russland gewesen

sei. Zwölf Prozent bezeichnen seine erste Amtszeit von 2000 bis 2008 und 27 Prozent die aktuelle Amtszeit als besonders demokratisch. Leonid Breschnew, der von 1964 bis 1982 der KPdSU vorstand und sowjetischer Staatschef war, gilt ebenfalls als demokratischer Politiker. Er liegt auf Platz zwei hinter Putin.

Kryschtanowskaja bemerkt, dass Putins Kritiker die Einschätzung, Russland sei unter seiner Führung demokratischer geworden, wohl kaum teilten. „Sieht man aber von persönlichen Sympathien ab, lässt sich feststellen, dass sich die Institutionen der Marktwirtschaft als auch demokratische Werte sichtlich weiterentwickelt haben und die Wahlen transparenter geworden sind", so die Soziologin. Heute habe die russische Zivilgesellschaft mehr Einfluss und Kontrollmöglichkeiten, ist sie überzeugt, und diese sei auch bestrebt, diese Möglichkeiten zu nutzen. Es gebe zudem deutlich mehr Menschenrechtsvertreter. Irina Ossipowa hingegen hält das politische Engagement der russischen Zivilgesellschaft für unverändert gering. Diese Einschätzung wird auch durch die Ergebnisse einer Befragung des Lewada-Zentrums gestützt. Demnach nehmen lediglich drei Prozent der Russen aktiv am politischen Leben des Landes teil.

Der Historiker Waleri Solowej, Professor am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen, glaubt, dass Putin bei seinen Landsleuten als

besonders demokratisch gelte, weil diese zwei Begriffe vermischten: Popularität und Demokratie. „Ohne Frage ist Putin das populärste Staatsoberhaupt der postsowjetischen Geschichte. Doch selbst wenn man Putin sehr wohlgesonnen ist, kann man nicht behaupten, er sei ein demokratischer Politiker", sagt Solowej. Seine Wahl sei jedoch durchaus rechtmäßig gewesen. „Wahlbetrug hatte Putin überhaupt nicht nötig, seine Überlegenheit war offensichtlich", meint der Historiker. Dass die Wahlen auch nach Ansicht westlicher Wahlbeobachter korrekt verlaufen seien und Putin auf ehrliche Weise gewonnen habe, sei ausschlaggebend dafür, dass Putin als besonders demokratischer Staatschef wahrgenommen werde, fasst er zusammen. Ob russische Politiker das lückenhafte Demokratieverständnis der Bevölkerung für ihre Zwecke nutzten, könne man nicht mit Sicherheit sagen, wie Irina Ossipowa bemerkt. Darüber gebe die jüngste Befragung keine Auskunft.

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