Arbeitskampf: Immer mehr russische Angestellte protestieren

Arbeitnehmer kämpfen für mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen.

Arbeitnehmer kämpfen für mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen.

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Russische Arbeitnehmer sind unzufrieden. In der ersten Jahreshälfte gab es so viele Mitarbeiterproteste wie schon lange nicht mehr. Auf Unterstützung durch die Gewerkschaften müssen sie dabei meist verzichten.

In der ersten Jahreshälfte 2015 gab es in Russland so viele Mitarbeiterproteste wie seit sieben Jahren nicht mehr. Das ergibt sich aus einer Analyse des Zentrums für Sozial- und Arbeitsrechte (ZSAR). In den ersten sechs Monaten des Jahres wurden 189 Proteste registriert, ein Zuwachs von 45 Prozent gegenüber dem Vorjahr, das bisher den Rekord hielt.

Landesweite Unzufriedenheit

Auf der Baustelle des Kosmodroms Wostotschnyj streikten die Arbeiter wegen ausstehender Lohnzahlungen, in Irkutsk legten die Mitarbeiter eines Transportunternehmens die Arbeit nieder, in Tscheljabinsk gab es Protestmärsche. Die Menschen sähen keinen anderen Ausweg, heißt es in dem Bericht des ZSAR. Sie hätten keine Möglichkeit, ihre Anliegen auf dem Rechtsweg durchzusetzen, auch weil die Gewerkschaften kaum Einfluss nähmen. Die Proteste kämen stattdessen mitten aus dem Volk und sollten sich nach Einschätzung des ZSAR nicht nur halten, sondern weiter steigern.  

Marija Gubarewa ist Gynäkologin in der hauptstädtischen Klinik Nummer 121. Sie war schon bei zwei Protestveranstaltungen dabei. Ende letzten Jahres gingen russische Ärzte auf die Straße, um gegen Massenentlassungen zu demonstrieren. Sie forderten außerdem, die für das Gesundheitswesen zuständigen Beamten abzusetzen. „Die Regierung hat ein paar Zahlungen geleistet und paradiesische Verhältnisse versprochen, und die Massen haben sich etwas beruhigt. Aber bis heute gibt es keine Verbesserungen. Kürzungen gibt es hingegen schon und die Menschen planen wieder, sich zu Protesten zusammenzuschließen. Wir haben schon einen „italienischen“ Streik (Arbeiten streng nach Vorschrift, Anm. d. Red.) gehabt.“ Mittlerweile schlössen sich auch Patienten den Protesten an, wenn auch weniger aus Solidarität mit dem medizinischen Personal: „Denen ist es egal, was die Ärzte verdienen, oder ob sie entlassen werden. Aber sie spüren die Auswirkungen der Sparmaßnahmen inzwischen am eigenen Leib“, so Gubarewa.

Nach Angaben des ZSAR werden die Mitarbeiterproteste im Gesundheitswesen nur von denen der Beschäftigten im Baugewerbe, Transportwesen und der Industrie überboten, sie alle aber hätten eines gemein: Die offiziellen Gewerkschaften unterstützten sie nur in Ausnahmefällen. Gubarewa hat bereits Konsequenzen gezogen: „Die offizielle Gewerkschaft ist dem Gesundheitsministerium komplett hörig. Ich bin aus ihr ausgetreten, man hat uns dort gar nicht unterstützt. Heute bin ich Mitglied der unabhängigen Gewerkschaft Aktion. Sie hilft zwar, aber sie ist so klein, dass das nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist.“

„Ich finde, dass man alle strittigen Fragen auf dem Rechtsweg klären muss, vor Gericht“,  sagt Alexej Schabanow, Vorsitzender der Union der Autofahrer Sibiriens. Im April dieses Jahres waren die Busfahrer in Irkutsk mehrere Tage lang von der Arbeit ferngeblieben, nachdem die Lokalregierung sich geweigert hatte, die Tariflöhne anzuheben. In der Gewerkschaft hatte man den Streik nicht unterstützt und bezeichnet ihn als „Machenschaften geopolitischer Gegner“. „Die Beschäftigten haben Einbußen“, gibt Schabanow zu. Aber der Tarifkonflikt müsse anderweitig gelöst werden, findet er. Er rechne zudem mit Lohnsteigerungen, aber erst nach den Herbstwahlen, die man nun abwarten müsse. Und wenn es keine höheren Löhne und Gehälter geben werde, sei man in der Gewerkschaft bereit, andere Instrumente zu suchen, „aber das wird garantiert kein Streik sein“.

Gewerkschaften arbeiten gegen die Beschäftigten

 „Im ganzen Land erfüllen Gewerkschaften ihre Aufgaben nicht und sind eher bereit, mit der Regierung und der Wirtschaft zusammenzuarbeiten, als die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten. Deshalb gibt es eine Nachfrage nach alternativen Gewerkschaften“, erklärt der Leiter des Instituts für Politische Studien der Higher School of Economics Rostislaw Turowskij. Dies führe zu Neugründungen wie der unabhängigen Gewerkschaft der AvtoVAZ-Fabrik Jedinstwo, die sich selbst als „Gewerkschaft der neuen Art“ bezeichnet. Sie organisiert nach eigenen Angaben regelmäßig Proteste, zu unterschiedlichen Anlässen und in unterschiedlicher Form: „In Krisenzeiten gibt es viele Probleme, die Arbeitsbedingungen werden schlechter, da kommen die Beschäftigten von selbst zu den Aktionen“, heißt es. Manchmal verschlechterten sich die Bedingungen derart, dass Mitarbeiter von sich aus kündigten. Für die „Gewerkschaft der neuen Art“ ist das auch ein Zeichen des Protests. Sie spricht von „sozialen Spannungen, die zu einer Explosion führen“ werden, wenn sich nichts ändere.

Turowskij ist anderer Meinung. Unter den aktuellen Bedingungen würden die Unternehmen und die Regierung nur wenig Entgegenkommen zeigen, doch er glaubt nicht, dass dies zu sozialen Unruhen führen werde: „Die Solidarität untereinander ist bei unseren Arbeitern bislang nicht sehr ausgeprägt. Früher oder später löst sich ein Protest aufgrund seiner Aussichtslosigkeit und der Unmöglichkeit, die Realisierung seiner Forderungen zu erwirken, auf. Einen politischen Mechanismus gibt es nicht.“

Auch auf föderaler Ebene erwartet man keine Zuspitzung. „Vor kurzem habe ich die Arbeitslosenstatistik des Arbeitsministeriums für die ersten zwei Quartale angeschaut und die Zahlen sprechen dagegen“, sagt der Vorsitzende für Sozialpolitik des Föderationsrats Walerij Rjasanskij im Gespräch mit RBTH. Die Statistik werde demnächst an Rosstat, das russische Statistikamt, weitergeleitet. So habe es im ersten Halbjahr 2015 ganze drei Streiks gegeben. „Vermutlich kommen nicht alle Fälle in die offizielle Statistik, denn dafür müssten sie registriert werden“, vermutet Rjasanskij.  „Aber ich denke dennoch nicht, dass uns extreme Spannungen erwarten.“ Die Regierung habe bereits „gewisse Amortisierungsmaßnahmen“ umgesetzt, um gegenzusteuern. „Seinerzeit haben wir Kompetenzen von der föderalen Ebene an die Regionen übertragen, finanzieller und verwaltungstechnischer Art, weil sie den Marktzustand bei sich an Ort und Stelle besser kennen. Heute werden Finanzmittel nicht nur zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit freigegeben, sondern auch für Umschulungen und bezahlte Sozialbeschäftigungsmaßnahmen. Große Summen fließen da. Damit schafft man es, die Unannehmlichkeiten zu mildern, die derzeit in der Wirtschaft existieren.“

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