Sieger oder Verlierer: Was bedeutet der 9. Mai für Russlanddeutsche?

Archive image / Colored by Klimbim
Der Student Jakob Dirksen stammt aus einer russlanddeutschen Familie. Er fühlt sich mit beiden Ländern eng verbunden und zugleich hin- und hergerissen zwischen zwei nationalen Identitäten. Was bedeutet der 9. Mai, der Tag des Sieges, für ihn?

In diesem Jahr wurde mir zum ersten Mal in meinem Leben zum Tag des Vaterlandsverteidigers gratuliert. Ich liege am 23. Februar in meinem kleinen Zimmer im Moskauer Studentenwohnheim, als ich nach dem Aufwachen die Nachricht einer russischen Freundin lese. Ich antworte scherzhaft: „Das ist euer Feiertag, ich werde Euer Vaterland nicht verteidigen.“ Sie meldet sich daraufhin wieder: „Es soll auch dein Feiertag sein. Oder soll ich dich nun als Feind betrachten?“ Wie absurd das klingt. 

Es sollte nicht die letzte Gratulation an diesem Tag bleiben. Auf der Arbeit tragen die Frauen selbstgeschriebene Gedichte für die Männer vor – auch für uns Deutsche. Ich habe Schwierigkeiten, diesen russischen Feiertag für mich persönlich einzuordnen. 

Und nun steht wieder ein Feiertag an: der 9. Mai, der Tag des Sieges. Ich bin zwar längst wieder zurück in Deutschland, doch ich werde Glückwünsche versenden – per SMS oder E-Mail. Ich selbst werde wohl kaum Glückwünsche erhalten. Warum auch? Es wäre auch mehr als befremdlich. Schließlich sind es die Deutschen, die von den Russen besiegt wurden. Den Verlierern wird nicht gratuliert. Aber bin ich denn überhaupt einer von eben diesen Deutschen?

Ohne Schuld

Als der Zweite Weltkrieg begann, lebten meine Vorfahren schon mehr als 150 Jahre in Russland. So kann ich mich in einer komfortablen moralischen Situation sehen: Schuld wegen der Taten meiner Vorfahren habe ich nie verspürt, weil sie Hitler nie unterstützt hatten. Das Anrücken der Wehrmacht brachte ihnen dennoch Leid und Unterdrückung. Die Russlanddeutschen, auch meine Großeltern und Urgroßeltern, wurden von Stalin der Kollaboration mit der deutschen Armee beschuldigt, in Arbeitslager gesteckt, erschossen oder in die kalte Ödnis Sibiriens zwangsdeportiert. Die Repressionen hörten auch nach dem Krieg nicht auf. Deutsche Einrichtungen und Kirchen wurden geschlossen, deutsche Bräuche verboten. Viele verleugneten aus Angst vor dem Regime ihre deutsche Sprache und Kultur, sie passten sich an. 

Ich fühle mich noch immer mit Russland verbunden. Warum auch nicht? Ich bin in Kasachstan geboren, ich spreche Russisch fast so gut wie Deutsch, und fragt man mich nach meinem Lieblingsessen, dann antworte ich mit Pelmeni und nicht mit Schweinebraten. Am 8. März kaufe ich Blumen für die Frauen, in der Familie haben wir auch die russischen Feiertage beibehalten. Was aber ist nun mit diesem 9. Mai?

Brückenbauer Russlanddeutsche

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir nach unserem Umzug nach Deutschland diesem Tag je große Beachtung geschenkt hätten. Damals in Kasachstan seien sie noch zu den feierlichen Versammlungen gegangen, erzählt meine Mutter: „Als sowjetische Bürger. Doch wir selbst haben dabei auch unserer Angehörigen und der Russlanddeutschen gedacht.“ Der 9. Mai gilt in Russland in erster Linie den Veteranen, Männern und Frauen, die im Krieg ihr Leben riskiert haben. Nicht den Russlanddeutschen, die im sibirischen Hinterland hart für den Sieg schuften mussten. Die Opfer, das Leid, der Hunger und die Demütigungen, die sie dabei ertragen haben, finden keinen Platz in der öffentlichen Wahrnehmung. 

Im 20. Jahrhundert konnten die Russlanddeutschen nie eine vermittelnde Rolle einnehmen, sondern wurden immer zum Spielball einer der beiden Parteien degradiert. Die Gefahr, dass dies erneut passiert, ist in der heute angespannten Lage wieder größer geworden. Dabei wissen die Menschen in beiden Ländern oftmals gar nicht, wie eng verflochten die zwei Kulturen miteinander sind. Tage wie der 9. Mai können die junge Generation der Russlanddeutschen dazu anhalten, sich an die Vergangenheit zu erinnern und Brücken zwischen Russland und Deutschland zu bauen. Denn wir kennen und lieben beide Länder und können dafür sorgen, dass Geschichte sich nicht wiederholt. Auch das ist ein Sieg, den es am 9. Mai zu feiern gilt.

Vom Todfeind zum Partner: Die Geschichte der deutsch-russischen Partnerschaft in der Nachkriegszeit

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

Diese Webseite benutzt Cookies. Mehr Informationen finden Sie hier! Weiterlesen!

OK!