Terrorbekämpfung: Wie der Nordkaukasus die Freiheit verrät

Als Präventionsmaßnahme setzen die Behörden auf totale Überwachung. Auf dem Bild: Soldaten russischer Spezialeinheiten im Januar 2016 während der Proteste in Grozny gegen die Mohammed-Karikaturen in "Charli Hebdo".

Als Präventionsmaßnahme setzen die Behörden auf totale Überwachung. Auf dem Bild: Soldaten russischer Spezialeinheiten im Januar 2016 während der Proteste in Grozny gegen die Mohammed-Karikaturen in "Charli Hebdo".

Valery Matytsin / TASS
Tschetschenien und Dagestan melden Erfolge im Kampf gegen den Terrorismus. Doch die Behörden setzen mitunter auf zweifelhafte Methoden bei der Prävention, wie unter anderem die Menschenrechtsorganisation Memorial kritisiert.

Betrachtet man die Statistik, scheinen die Behörden im Nordkaukasus im Kampf gegen den terroristischen Untergrund äußerst erfolgreich zu sein: 2015 wurde das sogenannte „Kaukasus-Emirat“, ein lokaler Ableger der Terrororganisation al-Qaida, faktisch vernichtet – es war der größte Erfolg im vergangenen Jahr.

Und von den Anführern der 26 Gruppierungen, die dem „Islamischen Staat“ die Treue geschworen haben, wurden 20 liquidiert. Ein gutes Ergebnis, aber das Wichtigste ist, dass es nachhaltig zu sein scheint – die terroristischen Aktivitäten in dieser Region sind nach den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi kontinuierlich zurückgegangen. Damals hatten die Behörden begonnen, die „Wahhabiten“ konsequent zu vertreiben.

Doch wo sind die Terroristen jetzt? Aller Wahrscheinlichkeit nach in Syrien und dem Irak. Zumindest wenn man den offiziellen Stellen glaubt, die angeben, dass wesentlich mehr Dagestaner nach Syrien gegangen sind als in die einheimischen Berge und Wälder. Doch trotz des Erfolgs ist nun die für die Neunzigerjahre typische Vorgehensweise zurückgekehrt: drastische Maßnahmen statt „sanfter Gewalt“ und die totale Kontrolle über die Bevölkerung. So heißt es in einem aktuellen Bericht des internationalen Menschenrechtszentrums Memorial.

Ältere haften für Jüngere

Zu den „Außenseiter“-Regionen, in denen kaum Anti-Terror-Einsätze durchgeführt wurden, gehören Inguschetien und Tschetschenien. Der Begriff „Prävention“ wird hier fast wie ein Mantra wiederholt. Man hat den Eindruck, dass die regionalen Parlamentsabgeordneten nichts anderes zu tun hätten, als die ganze Zeit nur tschetschenische Städte zu bereisen und vor der Gefahr des religiösen Extremismus zu warnen. Dabei sei das, so schreiben die Menschenrechtler, die „harmloseste“ der vorbeugenden Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung.

Vor einigen Monaten führte Tschetschenien eine verpflichtende Registrierung der persönlichen Gesinnung und Einstellung ein. „Sie wurde in ‚Umfrage‘ umbenannt, nachdem es in den Medien zu einem Sturm der Entrüstung kam“, sagt Ekaterina Sokirjanskaja, Direktorin des Projekts für Russland und Nordkaukasus bei der Internationalen Krisengruppe.

Alle tschetschenischen Personen zwischen 14 und 35 Jahren müssen an dieser „Umfrage“ teilnehmen: Jeder erhält ein Dokument, das nicht nur sämtliche persönlichen Daten enthält, sondern auch Angaben zu Nationalität sowie zum Teip und Wird, also zur Stammes- und zur konfessionellen Zugehörigkeit.

Das Entscheidende dabei ist, dass jeder junge Tschetschene einen älteren Bürgen vorweisen muss. De facto stelle das den Versuch dar, eine kollektive Haftung zu etablieren, meint Sokirjanskaja, was weder zeitgemäß noch rechtens sei. „Die Stimmung in der Gesellschaft richtet sich klar gegen diese Initiative“, betont sie. „Allerdings hat die Registrierung an sich – auch wenn sie ausnahmslos für jeden gilt – in Tschetschenien bisher keine solch augenscheinlich negativen Folgen wie in Dagestan“, fügt sie hinzu. Denn die Erfassung hat keinerlei rechtsverbindliche Auswirkung, sondern beschränkt sich auf die Ausübung von psychologischem Druck auf die Familien. 

Ein falscher Bart genügt

Foto: Valery Matytsin/TASSJeder junge Tschetschene muss einen älteren Bürgen vorweisen. Foto: Valery Matytsin/TASS

Dagestan hingegen setzt auf eine „präventive Erfassung“. Dabei werden alle Anhänger des Wahhabismus von den Behörden in einer Datenbank erfasst, mitsamt ihrer persönlichen Daten und einer DNA-Probe. Zurzeit sind laut Nachrichtenportal „Kawkaskij Usel“ etwa 100 000 Personen registriert. Eine kriminelle Vergangenheit spielt bei der Registrierung keine Rolle – allein der Verdacht genügt, um erfasst zu werden. Der Eintrag wird nicht ohne Weiteres wieder gelöscht. Streng genommen dürfte eine erfasste Person ihren Aufenthaltsort ohne behördliche Genehmigung nicht verlassen, sagt Sokirjanskaja.

Menschenrechtler kritisieren, dass allein der Verdachtsfall ausreicht, um in dieser Datenbank erfasst zu werden – dazu müsse jemand nur „falsch“ gekleidet sein oder den „falschen“ Bart tragen. Die Polizei führt Razzien auch in salafistischen Moscheen durch. Jedoch werde, wie ein Mitglied der Einsatzkräfte gegenüber dem Wirtschaftsblatt „Kommersant“ versicherte, aufmerksam verfolgt, „wer was in den Moscheen sagt; nur wegen seines Bartes wird niemand registriert“.

Nichtsdestoweniger wird gerade vor allem Tschetschenien vorgeworfen, Salafisten grundlos festzunehmen. Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow, ein inbrünstiger Anhänger des spirituellen Sufismus, erklärte den Salafisten öffentlich den Krieg.

Geschäftstüchtige Terroristen

Unterm Strich ist, was die bewaffneten Extremisten im Nordkaukasus betrifft, tatsächlich eine gewisse Entspannung zu verzeichnen, „aber man sollte sich nicht täuschen lassen“, wie Konstantin Kasenin, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und öffentlichen Dienst, anmerkt. Mit einer wirklichen Verschiebung der sozialen Wurzeln des Terrorismus habe das nichts zu tun: „Viele Extremisten sind einfach nur in den Nahen Osten gefahren, deswegen ist der Untergrund in Russland schwächer geworden.“

Der IS biete größere Anreize, denn dieser hätte eine gesicherte Finanzierung – ganz im Gegensatz zum „Kaukasus-Emirat“, dessen Finanzspritzen von der al-Qaida und anderen Geldgebern immer häufiger in den Transitländern versickern.

Den Strom der „Rückkehrer“, von denen es bereits einige gibt, lässt sich nach Meinung von Experten bisher noch kontrollieren. So versuchten etwa zehn Personen, die als Geschäftsleute getarnt Autos aus Europa nach Russland überführen wollten, sich dem dortigen Untergrund anzuschließen. Sie konnten jedoch zurückverfolgt und letzten Endes festgenommen werden.

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