Tee, Gemeinschaft und wieder Tee: Wie die Molokanen heute leben

Jekaterina Filippowitsch
Im zaristischen Russland und in der Türkei wurden die Molokanen verfolgt, als Ketzer bezeichnet und aus ihren angestammten Siedlungsgebieten vertrieben. Aber wie ein Phönix aus der Asche sind sie immer wieder in einem neuen Land auferstanden.

Familie Konowalow gehört 101 Hektar Schwarzerde. Foto: Jekaterina FilippowitschFamilie Konowalow gehört 101 Hektar Schwarzerde. Foto: Jekaterina Filippowitsch

Die Gemeinschaft der Molokanen, einer Form des orthodoxen Christentums und einer besonderen ethnische Gruppe der Russen, bildete sich Ende des 18. Jahrhunderts in Russland. Da sie als sehr protestantenfreundlich galten, wurden sie von der offiziellen Kirche als Ketzer-Sekte betrachtet. Von den orthodoxen Gläubigen unterscheiden sie sich dadurch, dass sie die Bibel als einzige Grundlage für ihre Lebensführung gelten lassen.

Die Bibel assoziieren die Molokanen mit „geistlicher Milch“, mit der die menschliche Seele genährt wird (1 Petrus 2:2). Nach Meinung einiger Molokanen stammt daher auch ihre Bezeichnung, denn „moloko“ ist das russische Wort für „Milch“. Es gibt allerdings auch eine andere Version. So sollen die orthodoxen Christen sie so genannt haben, weil sie die Fastenregeln nicht einhalten und während dieser Zeit Milch und andere eiweißhaltigen Produkte zu sich nehmen.

Außerdem interpretieren sie die Dreifaltigkeit und Christus auf ihre eigene Weise, kennen keine Heiligen oder Ikonen, verfügen nicht über einen Priesterstand oder Sakramente und die Kirche ist für sie jede Versammlung von Gläubigen.

Die Molokanen leben heute vor allem in den Vereinigten Staaten, Mexiko, Georgien und Aserbaidschan. Mitte des vergangenen Jahrhunderts wanderten mehrere Tausend Molokanen aus der Türkei nach Russland aus und ließen sich in Dörfern der Region Stawropol nieder, 1 500 Kilometer südlich von Moskau.

Verlorene Dörfer

Molokanen-Dörfer zu finden ist gar nicht so leicht, wenn man nicht genau weiß, wo sie sich befinden. Diese Gemeinschaft ist es gewohnt, verborgen und abgeschieden zu leben, und hat sich deshalb der Zivilisation und somit den Blicken Fremder entzogen. Im Ostteil der Region gibt es ein paar versprengte Flecken. Einer von ihnen liegt in der Nähe des Dorfes Kamennaja Balka. Nur über gewundene holprige Wege, die den Namen „Straße“ nicht verdienen, gelangt man dorthin.

An der Kreuzung empfängt uns Andrej Konowalow, Vater einer Großfamilie. Er führt uns einen unscheinbaren Pfad entlang, bis wir endlich zu einem Hügel gelangen, hinter dem die Dächer gepflegter Häuser auftauchen. Sie erinnern ein wenig an Pfefferkuchenhäuschen und sind von üppigen Rosensträuchern umgeben. Die Zäune sind mit Trickfilmfiguren verziert, unter anderem mit Disneys „Schneewittchen und den sieben Zwergen“. Alle Häuser stehen entlang einer einzigen, langgestreckten Straße, die sich bis zu den Feldern hinzieht, auf denen gerade der Winterweizen in die Ähren schießt. Familie Konowalow gehört 101 Hektar Schwarzerde. Andrej führt die Wirtschaft und kümmert sich um das Getreide.

Grenzwandler

Die Molokanen lebten ursprünglich in Transkaukasien, im Gebiet Kars, das unter Zar Alexander II. zu Russland kam und unter Lenin wieder zurück an die Türkei ging. Das ist der Grund, weshalb alle Molokanen zwei Sprachen beherrschten: Russisch und Türkisch.

Andrej Konowalow ist Vater einer Großfamilie. Foto: Jekaterina FilippowitschAndrej Konowalow ist Vater einer Großfamilie. Foto: Jekaterina Filippowitsch

„Die Molokanen glauben, dass der Messias auf dem Berg Ararat erscheinen wird, weshalb sie bestrebt waren, auf türkischem Gebiet zu siedeln, um diesem Berg möglichst nah zu sein“, erzählt Pawel Konowalow, Andrejs Vater. „In der Türkei fühlten wir uns jedoch nicht sicher: Unser Land hätte uns abgenommen, unsere Töchter entführt werden können.“

1962 bot die sowjetische Regierung den Molokanen an, in die UdSSR zurückzukehren. Pawels Familie hatte damals auch die Möglichkeit, in die Vereinigten Staaten zu gehen, aber seine Familie war dagegen und zog es vor, in die Sowjetunion zurückzukehren. „Uns wurde Religionsfreiheit zugesagt. Daran haben wir auch geglaubt“, erinnert sich Pawel. „Als wir dann in die Sowjetunion kamen, mussten wir in Bretterbuden hausen. Es gab nichts. Wir haben alles selbst aufgebaut.“ Insgesamt kamen 3 000 Molokanen aus der Türkei nach Russland.

Ärger im Paradies

In Andrejs Haus liegt ein Teppich mit Sonnenblumenmuster. In der gesamten Einrichtung ist kein Schwarz zu finden – Molokanen lieben leuchtende Farben, vor allem aber Weiß, als Symbol der Reinheit. Am Sonntag wird gewöhnlich helle Kleidung getragen, die dann die Woche über in einer Truhe aufbewahrt wird, bis zum nächsten Sonntag. Hell, weiß … Milch?

Pawel Konowalow, Andrejs Vater, spricht Russisch und Türkisch. Foto: Jekaterina FilippowitschPawel Konowalow, Andrejs Vater, spricht Russisch und Türkisch. Foto: Jekaterina Filippowitsch

„Der Begriff ‚Molokanen‘ hat überhaupt nichts mit Milch zu tun“, wundert sich Pachom, der Großonkel des Hausherrn. „In der Bibel gibt es zwar die Metapher der reinen geistlichen Milch. Aber unser Name stammt nicht davon ab. Wir haben alle dieselben Wurzeln. Die Verfolgung im zaristischen Russland hat uns zusammengeschweißt.“

Nicht alle sind überzeugte Mitglieder der Gemeinschaft. Pachom zieht die buschigen Brauen zusammen, als er von seiner Tochter erzählt. Sie hat die Gemeinde für immer verlassen, weil sie keinen Molokanen heiraten wollte. Eine der wichtigsten Regeln der Molokanen lautet: Entweder du heiratest einen von den eigenen Leuten, damit das Blut rein bleibt, oder hier ist kein Platz für dich. Damit es nicht zu Ehen zwischen allzu nahen Verwandten kommt, werden den Stawropoler Molokaninnen Bräutigame aus Aserbaidschan und Georgien gesucht. Andrejs Frau Olga, zum Beispiel, stammt aus Armenien.

Wahre Teegenießer

Eine Besonderheit der Molokanen ist ihre Leidenschaft für Tee. „Mit Tee beginnt und endet bei uns jede Mahlzeit. Im Laden kaufen wir lediglich Salz und Zucker. Alles andere erzeugen wir selbst“, erklärt Andrej.

Jekaterina Filippowitsch
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Die Hausherrin deckt den Mittagstisch. Auf dem Tisch ragt ein großer, messingfarbener Samowar hervor. Am Tisch stehen keine Stühle, sondern Bänke – so ist es üblich in Großfamilien. Olga schneidet den Käse auf, den sie am Tag zuvor zubereitet hat.

Nach dem reichhaltigen Mittagessen streicht Andrej zufrieden seinen langen Bart: „Nach unseren Gesetzen muss das Familienoberhaupt einen Bart tragen. Wenn wir aus dem Dorf in die Stadt fahren, zeigen die Leute manchmal mit dem Finger auf uns.“ Sie seien nicht allzu oft in Städten anzutreffen, fügt er hinzu. „Aber die Menschen aus der Gemeinde wissen, wie sie uns finden können.“

Hinter dem Zaun: Leben in einer geschlossenen Stadt

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