Russen erinnern sich an 9/11: „Sie sind wie wir“

Auch 15 Jahre nach den Terroranschlägen sitzt der Schock noch tief.

Auch 15 Jahre nach den Terroranschlägen sitzt der Schock noch tief.

Gulnara Samoilova/AP
Vor 15 Jahren rasten al-Qaida-Terroristen mit entführten Passagiermaschinen in die Zwillingstürme des New Yorker World Trade Center und das Pentagon in Washington. Über 3 000 Menschen starben bei dem blutigsten Anschlag auf die USA in der Geschichte des Landes. Unter den Opfern und Zeugen der Tragödie waren auch viele Russen.

Wie viele Russen und ehemalige Sowjetbürger bei den Anschlägen am 11. September 2001 ums Leben kamen, ist umstritten: 18 Namen sind auf dem Mahnmal im Asser-Levy-Park in Brooklyn verewigt, Walerij Sawinkin aber geht von über 100 Opfern aus Russland und der ehemaligen Sowjetunion aus. Der Einwanderer aus dem ukrainischen Odessa verlor bei dem Anschlag seinen 21-jährigen Sohn. Gemeinsam mit anderen Familien der Opfer gründete Sawinkin eine Hinterbliebenengruppe: die September-11-Family-Group.

„Ich habe das alles unmittelbar miterlebt“, erzählte Sawinkin einem russischen Fernsehsender im Jahr 2015. „Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen – nicht im Fernsehen –, wie erst der Süd- und dann der Nordturm einstürzten.“ Der Familienvater sah den Brand und den Einsturz von einem benachbarten Gebäude aus. Das Zimmer ihres verstorbenen Sohnes haben er und seine Frau so erhalten, wie es am 11. September war. Bis heute bringen sie von jeder ihrer Reisen ein Souvenir mit und stellen es dort auf den Schreibtisch.

Alles schwarz-weiß 

Als Gulnara Samojlowa, Fotoreporterin bei Associated Press in New York, vom Terroranschlag hörte, griff sie zu ihrer Kamera und eilte zu den Twin Towers. Sie fotografierte, wie der erste Turm einstürzte und Manhattan unter einer Lawine von Trümmern und Staub begraben wurde. Samojlowa fiel zu Boden: „Es war stockfinster. Ich bekam keine Luft und dachte, ich bin lebendig begraben“, erzählte die gebürtige Baschkirin der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti.

Die Aufnahmen von Gulnara Samoilwa erschienen am nächsten Tag weltweit in den Medien. Foto: Gulnara Samoilova/APDie Aufnahmen von Gulnara Samoilwa erschienen am nächsten Tag weltweit in den Medien. Foto: Gulnara Samoilova/AP

Doch sie blieb unverletzt und fotografierte weiter. Trotz Farbfilms waren die Fotos schwarz-weiß: Ganz Manhattan war farblos, wegen des Staubs. Ihre Aufnahmen – Menschen, die auf der Suche nach Freunden und Verwandten panisch umherirren –, erschienen am nächsten Tag weltweit in den Medien.

Die Fotografin selbst steckte das Erlebte nicht ohne Weiteres weg. Nach dem 11. September verließ sie den Nachrichtenjournalismus – zu tief saß der Schock. Leichen habe sie an dem Tag nicht fotografiert. Und auch jene Menschen nicht, die aus den Fenstern der Twin Towers sprangen, um dem Flammentod zu entgehen: „Das brachte ich nicht fertig“, sagte Samojlowa.

Unergründliches Schicksal

Menschen lesen die Namen der Opfer des Terroranschlags vom 11. September 2001 auf dem „Empty Sky“-Denkmal im Liberty State Park in New Jersey. Foto: ReutersMenschen lesen die Namen der Opfer des Terroranschlags vom 11. September 2001 auf dem „Empty Sky“-Denkmal im Liberty State Park in New Jersey. Foto: Reuters

Der Unternehmer Grigorij Wischnjakow erfuhr von den Anschlägen erst, als er von seinem Wohnort New Jersey in Manhattan ankam. In einem Interview erinnerte er sich: „Irgendwelche Idioten verschickten SMS, dass sich in anderen Gebäuden der Stadt Sprengstoff befinde“, sagte Wischnjakow. „Alles Falschmeldungen.“

Zwei seiner Freunde waren am Morgen des 11. September nur durch glückliche Fügung nicht im World Trade Center: „Einer von ihnen hatte ein Büro in einem der Zwillingstürme. Am Abend vor dem Anschlag trank er etwas zu viel in einem russischen Restaurant und wachte am 11. September erst am Nachmittag auf. Er war ganz panisch, weil er die Arbeit verschlafen hatte. Aber als er erfuhr, was passiert war, erlebte er seine zweite Geburt“, erzählte der Unternehmer.

Der andere Freund hatte es am 11. September ebenfalls eilig: Auf dem Weg zur Arbeit ins World Trade Center wurde er wegen Geschwindigkeitsüberschreitung verhaftet. Wenige Wochen später, vor Gericht, dankte er dem Polizisten dafür, dass dieser ihm das Leben gerettet hatte.

Einigkeit im Angesicht des Schreckens 

Trotz Farbfilms waren die Fotos schwarz-weiß: Ganz Manhattan war farblos, wegen des Staubs. Foto: Gulnara Samoilova/APTrotz Farbfilms waren die Fotos schwarz-weiß: Ganz Manhattan war farblos, wegen des Staubs. Foto: Gulnara Samoilova/AP

Die Journalistin Veronika Kuzillo, damals Korrespondentin beim russischen Wirtschaftsblatt „Kommersant“, machte mit ihrer Mutter im September 2001 Urlaub in New York. Sie sahen die Katastrophe, wie andere Touristen auch, vom Dach ihres Hotels in Manhattan aus. „Wir sahen die brennenden Türme. Als einer von ihnen wie in Zeitlupe einstürzte, ging ein Raunen durch die Menschenmenge: ‚Oh mein Gott‘ war gleichsam auf Englisch und auf Russisch zu hören“, schrieb Kuzillo in einer Kolumne.

Das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das ganz New York ergriffen hatte, habe sie überwältigt. „Nachdem man mit den Amerikanern gemeinsam eine solche Tragödie erlebt hat, kann man nicht anders als einfach einsehen, dass sie genauso sind wie wir“, schrieb die Journalistin damals.

Auch Alexej Pimenow, Professor für russische Geschichte an der George Mason University, erinnert sich an das damalige Gefühl der Solidarität: „Als der Anschlag bekannt wurde, kamen sofort Freunde zu uns. Wir diskutierten so wie einst in Moskauer Küchen“, erzählte der Historiker dem Radiosender „Voice of Amerika“.

Zunächst habe Ratlosigkeit geherrscht: „Was kommt danach? Ein Krieg? Gegen wen? Wie wird sich alles verändern?“, erinnerte sich Pimenow. Die Trauer habe erst später eingesetzt. Die historische Dimension des Anschlags sei jedoch nicht begriffen worden, weder am Tag der Tragödie noch Jahre danach, meint der Wissenschaftler heute.

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