Vorwurf der Kinderpornografie: Jock-Sturges-Ausstellung geschlossen

Gegen die Moskauer Galerie hagelte es Drohungen und Proteste.

Gegen die Moskauer Galerie hagelte es Drohungen und Proteste.

Andrei Makhonin / TASS
Eine Ausstellung des US-amerikanischen Fotografen Jock Sturges, die erstmals in Russland gezeigt wurde, ist nach Drohungen und gewaltsamen Protesten geschlossen worden. Seine Bilder beinhalteten Darstellungen von Kinderpornografie, lauteten die Vorwürfe.

Nach massiven Protesten ist eine Ausstellung des US-amerikanischen Fotografen Jock Sturges in Moskau geschlossen worden. Die Schau „Jock Sturges. Ohne Verlegenheit“, die am 8. September im Brüder-Lumière-Zentrum für Fotografie eröffnet wurde, zeigte Aktfotografien, unter anderem von Kindern.   

Ein Fotograf, der provoziert

Sturges Bilder wurden in Russland zum ersten Mal gezeigt. Seit den siebziger Jahren fotografiert er Nudisten, vor allem aus Kalifornien, Frankreich und Irland. Bekannt ist er für seine Aktaufnahmen von Mädchen und jungen Frauen.

Zunächst schien das Moskauer Publikum keine Einwände gegen die Ausstellung zu haben. Die Darstellung nackter Menschen orientiere sich an den Arbeiten der alten Meister aus dem 19. und dem frühen 20. Jahrhundert, hieß es. Bis nach mehr als zwei Wochen nach Ausstellungseröffnung ein Beitrag der Bloggerin Lena Miro mit dem Titel „Ausstellung für Pädophile in Moskau“ erschien – damit änderte sich die Meinung über Sturges schlagartig.

„Ich bin entsetzt. Man hat die Werke der Inspirationsquelle aller Pädophilen, Jock Sturges, nach Moskau gebracht. Wo bleiben die Gesetzeshüter? Warum werden in Moskau die Werke einer Person präsentiert, die junge nackte Mädchen in sexuellen Posen fotografiert?“, schrieb Miro und zeigte einige seiner Bilder, die sie im Netz gefunden hatte. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei nicht um die Fotografien, die in der Moskauer Ausstellung zu sehen waren.

Ungeachtet dessen schlug ihr Blogpost große Wellen. In nur zwei Tagen braute sich in den sozialen Medien ein Sturm der Entrüstung zusammen. Es entfachte sich eine hitzige Debatte darüber, was Kunst darf und was nicht. Die Kritiker bemängelten eine wiederholte Scheinheiligkeit der Behörden. 

Es meldeten sich auch die Abgeordnete Jelena Misulina, die mit dem Adoptionsverbot von russischen Waisenkindern für US-Bürger sowie dem Verbot von Homosexuellen-Propaganda auf sich aufmerksam machte, und die jüngst berufene Ombudsfrau für Kinderrechte, Anna Kusnezowa, zu Wort. Beide forderten die Staatsanwaltschaft auf, die Ausstellung „Ohne Verlegenheit“ auf pädophile Inhalte zu prüfen. „Ich bin mir sicher, dass Bilder von nackten jungen Mädchen, die in der Ausstellung gezeigt werden, nicht als Kunst gelten können“, stellte Misulina klar.

„Neben dem Gesetz gibt es die öffentliche Meinung“

Nach den Vorwürfen hagelte es massive Drohungen gegen die Galerie, die sich gezwungen sah, am Tag des Erscheinens des Blogposts eine Stunde früher zu schließen. Möglicherweise hat sie damit Schlimmeres verhindert: Laut Augenzeugen habe die vorzeitige Schließung den orthodoxen Aktivisten, Dmitri Enteo, „sehr enttäuscht“, der die Galerie besuchen wollte. Im Januar 2015 zerstörten er und seine Anhänger eine Ausstellung zur sowjetischen Avantgarde im Moskauer Ausstellungszentrum Manege.

Am Tag darauf besetzten Aktivisten der konservativen Non-Profit-Organisation „Russische Offiziere“, deren erklärte Ziele die Vorbeugung von Straftaten sowie die Steigerung des Patriotismus sind, das Gelände. Sie blockierten den Eingang zur Galerie und ließen nur Journalisten sowie Anton Zwetkow, den Leiter der Kommission für Sicherheit der Gesellschaftskammer, passieren.

Letzterer kam, um die Ausstellung zu überprüfen. Beim Verlassen der Galerie erklärte Zwetkow, 15 Prozent der Werke seien als provokativ-pädophil einzustufen. Die Barrikade der „Offiziere“ lobte er als „Prävention von unerlaubten Handlungen“.

Nicht verhindert haben die „Offiziere“ indes die Aktion eines Anhängers der radikalen Kreml-Bewegung Serb, der unter dem Deckmantel eines Journalisten in das Gebäude gelangt war. Er verunstaltete die Werke von Sturges mit einer Flüssigkeit aus einer mitgebrachten Flasche, bei der es sich vermutlich um Urin handelte.

Am Ende erreichten die Kritiker ihr Ziel: Die Leitung der Galerie beendete die Ausstellung vorzeitig. Später erklärte diese auf einer Pressekonferenz, die Ausstellung befinde sich zwar im Einklang mit den russischen Gesetzen, aber in Russland gebe es eben „neben den Gesetzen auch die öffentliche Meinung“.

Selbst ernannte Richter

Ausführlicher äußerte sich die Direktorin der Galerie und Kuratorin der Ausstellung, Natalia Litwinskaja, auf Facebook. „Das Brüder-Lumière-Zentrum für Fotografie hat heute seine ‚Sternstunde‘ erlebt. Unser Jock-Sturges-Projekt geriet unter den Beschuss des Wahnsinns. Wir haben diesen Künstler in eine offene und demokratische Gesellschaft geführt, um der internationalen Kunstgesellschaft zu zeigen, dass dieses Land bereit für die Normalität ist. Hören wir doch damit auf, uns wieder zu vergraben“,schrieb sie und fügte hinzu, dass alle Nacktmodelle der Moskauer Ausstellung volljährige Frauen seien.

Dass Jock Sturges eine Debatte über den Gradmesser der Kunst und die Asexualität seiner Fotomodelle auslösen würde, damit war zu rechnen. Schockiert hat die Befürworter des Künstlers vielmehr, auf welche Weise heutzutage eine Ausstellung in Russland geschlossen werden kann. „Wie alle richtig festgestellt haben, ist das Bemerkenswerte an dieser Geschichte das Folgende: Die Ausstellung wurde nicht von der Staatsanwaltschaft oder von Roskomnadsor (Russlands Kontrollbehörde, Anm. d. Red.) geschlossen, sondern von uniformierten Aktivisten“, fasste Dmitri Gudkow, Oppositionspolitiker und früherer Duma-Abgeordneter, in einem Facebook-Beitragzusammen.  

Auch der Künstler selbst, Jock Sturges, reagierte auf die Ereignisse bestürzt und sagte im Interview mit Ren TV, dass er „traurig“ sei. „Diese Bilder wurden weltweit gezeigt. Keine Galerie und kein Museum hat darin pornografische Inhalte gesehen. Es gibt schlicht keine.“

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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