Breschnew-Attentat: Wie der größte Terrorist der UdSSR auf freien Fuß kam

Am 22. Januar 1969 ereignete sich ein für die Sowjetunion bis dahin beispielloser Vorfall: Ein Mann schoss vor dem Moskauer Kreml auf die Fahrzeugeskorte des damaligen sowjetischen Staatschefs Leonid Breschnew. Ein Mensch starb, vier weitere wurden verletzt. Doch der Attentäter wurde nicht zum Tode verurteilt. Er lebt noch heute. Mehr noch: Er ist auf freiem Fuß. RBTH hat den Mann getroffen, der Breschnew erschießen wollte.

Sowjetischer Staatschef Leonid Breschnew / Vladimir Musaelyan / TASSSowjetischer Staatschef Leonid Breschnew / Vladimir Musaelyan / TASS

Wie ein ehemaliger Terrorist sieht er nicht aus. Ich begleite den schlanken, freundlichen alten Herrn auf seinem Spaziergang mit seinem Hund, einen Mischling, den er einst vor dem Kältetod bewahrt hat. Wir kommen ins Gespräch: „Wenn der Mensch mit siebzig die Welt immer noch so sieht wie mit zwanzig, hat er sein Leben vertan“, sagt Wiktor Iljin. In diesem Jahr wird er siebzig. Als er auf Breschnew schoss, war er einundzwanzig. „Könnte ich ins Jahr 1969 zurück, würde ich niemanden töten. Gott sei Dank habe ich heute die Möglichkeit, das zu sagen. Als ich auf die Autokolonne schoss, habe ich nicht damit gerechnet, eine Zukunft zu haben. Das war eine selbstmörderische Tat. Aber man gab mir glücklicherweise ein zweites Leben.“

Rente statt Exekution

Die Anklage lautete auf Terrorismus, Mord, Waffendiebstahl und Fahnenflucht – Iljin drohte die Todesstrafe. Doch verurteilt wurde er nicht. Das Gericht befand den damals 21-Jährigen für unzurechnungsfähig und ließ ihn zwangsweise in eine psychiatrische Klinik einliefern. Dabei sagten alle Ermittler, die Iljin verhörten – darunter der damalige KGB-Chef und künftiges Staatsoberhaupt der UdSSR Juri Andropow –, dass er seine Tat mit Vorsatz, in vollem Bewusstsein und aus ideologischen Motiven verübt hatte.

„Anzuerkennen, dass ein geistig gesunder Sowjetbürger auf Breschnew schießt, wäre für die Sowjetführung ein öffentliches Zugeständnis gewesen, dass es in der Sowjetgesellschaft Unzufriedenheit mit der UdSSR gab. Das war schlicht undenkbar“, erklärt Wiktor Iljin selbst. „Also beschlossen sie, an mir zu demonstrieren, dass nur ein ‚Geisteskranker‘ ein Attentat auf den sowjetischen Staatschef verüben könne.“

Dass die Sowjetunion in zwanzig Jahren zerfallen würde, konnte damals noch keiner ahnen. Auch nicht, dass das Oberste Gericht Russlands den ehemaligen Terroristen freilassen und fast zum Freiheitskämpfer hochstilisieren würde. Nach seiner Freilassung erhielt Wiktor Iljin sogar eine kleine Wohnung am Rande seiner Heimatstadt Sankt Petersburg und eine auskömmliche Rente dazu.

Ein Brief an den Kreml

Der Ursprung seiner Tat ist wohl in seiner Kindheit zu suchen: Er war noch keine zwei Jahre alt, als er seinen alkoholkranken Eltern weggenommen wurde. Aufgewachsen ist er bei Adoptiveltern. In der Schule hatte er keine Freunde, litt, wie er selbst sagt, unter Vernachlässigung.

„In der Oberstufe träumte ich davon, Geologe zu werden“, erzählt der Siebzigjährige. „Damals war dieser Beruf von Romantik umwoben: Expeditionen, neue Bekanntschaften, unerforschte Gebiete, Lieder am Lagerfeuer. Nach meiner Topografen-Ausbildung war ich in vielen fernen Gegenden der Sowjetunion. Aber was ich dort gesehen habe, irritierte mich: Armut, Alkoholismus, Chaos – es war alles ganz anders als das, was man im Sowjetfernsehen zu sehen bekam. Ich verstand, dass das gesamte Land damals so lebte und die Kommunisten einfach dreist logen.“

Die Enttäuschung mündete zunächst in die Ausarbeitung eines Reformplans. „Mein Reformplan sah unter anderem ein Grundeinkommen für jeden Sowjetbürger vor, finanziert durch Erlöse aus Rohstoffexporten“, erzählt Iljin. Den Plan schickte er an den Kreml, adressiert an Breschnew: „Eine Antwort bekam ich aber nicht.“ Da schlug seine Enttäuschung in Wut um. „Ich beschloss, Breschnew umzubringen. Ich wollte, dass alle von meinen Ideen erfahren, und dafür brauchte ich eine große Tat, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Meinen Reformplan wollte ich dann im Gerichtssaal verlesen, als mein letztes Wort“, erklärt Wiktor Iljin.

Fast ein ganzes Jahr lang bereitete sich der junge Mann auf das Attentat vor. Um an Waffen zu gelangen, ging er zur Armee. Er diente unweit seiner Heimatstadt, die damals noch Leningrad hieß. Täglich studierte er die Zeitungen, die unentwegt darüber berichteten, wann, wo und mit wem sich Leonid Breschnew traf.

Viktor Ilyin / screenshot from RT videoViktor Ilyin / screenshot from RT video

Dann, Mitte Januar, vermeldete die Sowjetpresse einen weitere Errungenschaft der sowjetischen Weltraumforschung: Die Raumschiffe Sojus-4 und Sojus-5 hatten ein Andockmanöver im Erdorbit erfolgreich absolviert. Die zurückgekehrten Kosmonauten sollten am 22. Januar in Moskau geehrt werden. Zuvor sollte eine Regierungsdelegation unter Leitung von Leonid Breschnew die Kosmonauten am Flughafen empfangen, um sie dann in einem Ehrenkorso zum Kreml zu begleiten.

Breschnews Glück

Wiktor Iljin plante minutiös. Es ist der Morgen des 21. Januar: Wiktor Iljin wartet ab, bis die Wache eingeschlafen ist, dann stiehlt er aus dem Waffenschrank seiner Kaserne zwei Pistolen samt Munition. Mit der S-Bahn fährt er zum Leningrader Flughafen Pulkowo und nimmt die Maschine nach Moskau – damals kein Problem, da es noch keine Sicherheitskontrollen vor dem Abflug gab. In der Hauptstadt steigt er bei seinem Onkel ab, einem Polizeibeamten. Am Morgen des 22. Januar schleicht er sich in der Uniform seines Onkels aus der Wohnung und kommt just in dem Moment am Kreml an, als die Eskorte dort vorbeifährt.

Das alles bringt Wiktor Iljin in weniger als 24 Stunden über die Bühne. „Hätte ich länger gebraucht, wäre der Plan gescheitert. Eine Stunde vor dem Attentat kam der KGB mir auf die Spur. Und auch nur, weil meine Vorgesetzten in der Kaserne kein Aufsehen erregen wollten und erst einmal auf eigene Faust nach mir gesucht hatten“, erinnert sich Iljin.

Vor dem Kreml stehen Polizeikräfte, die Schaulustige fernhalten sollen. Iljin mischt sich unter die Polizisten – in seiner Uniform fällt er nicht sonderlich auf. Als sich die Autokolonne nähert, springt er hervor und schießt aus beiden Pistolen gleichzeitig auf die zweite Limousine, in der normalerweise der Staatschef Platz nimmt. Doch Breschnew hat Glück: Seine Limousine fährt vor dem Auto der Kosmonauten statt dahinter. Iljin zielt also auf die Limousine, in der unter anderem der Kosmonaut Alexej Leonow und die erste Kosmonautin der Welt Walentina Tereschkowa sitzen.

Wiktor Iljin verschießt elf Kugeln, tötet den Fahrer und verletzt zwei der Insassen schwer. Eine weitere Kugel trifft einen Fahrer der Motorradeskorte. Der junge Mann wird an Ort und Stelle verhaftet – ohne Widerstand. Doch sein Plan geht nicht auf: Breschnew lebt, Informationen über das Attentat kommen unter Geheimverschluss – nur die Auslandspresse berichtet darüber –, die Verhandlung, auf der Iljin seine Rede halten wollte, findet nicht statt.

Ein neuer Mensch

Auf die Frage nach seinen politischen Ansichten heute geht Wiktor Iljin nicht ein: Er müsse jetzt Gott dienen, weil er einen Unschuldigen getötet habe. Der ehemalige KGB-Oberst Igor Atamanenko, der Iljin 1969 befragte, erinnert sich, dass dieser einen hysterischen Anfall bekam, als er erfuhr, dass er nicht Breschnew, sondern die Kosmonauten erschossen hatte.

Wiktor Iljin heute in seiner Heimatstadt Sankt Petersburg\nLev Romanov<p>Wiktor Iljin heute in seiner Heimatstadt Sankt Petersburg</p>\n
Wiktor Iljin heute in&nbsp;seiner Heimatstadt Sankt Petersburg\nLev Romanov<p>Wiktor Iljin heute in&nbsp;seiner Heimatstadt Sankt Petersburg</p>\n
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„Heute lebe ich ein anderes Leben“, sagt der Siebzigjährige. „Sobald mein Hundefreund stirbt, gebe ich die Wohnung an den Staat zurück und gehe ins Altenheim.“ Verwandte habe er keine, seine einzige Freundin – eine Nachbarin – sei vor einem Jahr verstorben. Ob er Hilfe brauche, will ich wissen. „Ich will schon lange meine Gedichte veröffentlichen, aber keiner nimmt sie. Helfen Sie mir damit?“, bittet Wiktor Iljin mich. Doch dann winkt er ab: „Nein, jetzt ist nicht gut. Besser im Sommer, nach Pfingsten. Ich muss mich erst darauf vorbereiten.“

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