Wie Menschen mit Behinderung in Russland leben

A young girl in a wheelchair waits for handouts from passersby in a Moscow underground passage

A young girl in a wheelchair waits for handouts from passersby in a Moscow underground passage

AP
Beim Eurovision Song Contest wird Russland erstmals von einer im Rollstuhl sitzenden Sängerin vertreten. Das Land selbst ist aber noch weit von einer akzeptablen Barrierefreiheit entfernt. Und nicht nur die Infrastruktur bereitet Probleme – auch die Einstellung der Gesellschaft gegenüber Behinderten muss sich ändern.

Als am 12. März bekannt gegeben wurde, dass am Eurovision Song Contest in Kiew Julia Samojlowa für Russland singen wird, eine Sängern, die seit ihrem 13. Lebensjahr wegen einer spinalen Muskelatrophie auf einen Rollstuhl angewiesen ist, war die Resonanz gespalten. Zwar findet die Sängerin Samojlowa selbst breite Anerkennung. Kontrovers diskutiert wird nur die Frage, was diese Wahl der Jury des „Ersten Kanals“ zu bedeuten hat.

Die Teilnahme der jungen Frau mit Behinderung sei ein symbolisch wichtiger Schritt, der die russische Gesellschaft zu mehr Toleranz und Offenheit führen könne, glauben manche Beobachter. Andere sind überzeugt, dass Samojlowa als „Aushängeschild“ benutzt wird, um der Welt zu zeigen, dass es in Russland für Behinderte keine Barrieren gäbe. Was von der Wahrheit weit entfernt sei.

Julia Samojlowa / APJulia Samojlowa / AP

Städte nicht für alle

Die Infrastruktur ist an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen nicht angepasst. Das räumen auch die Behörden ein. Der Generalstaatsanwalt Juri Tschajka bemerkte Anfang März, es sei entweder überhaupt keine Infrastruktur für behinderte Menschen vorhanden oder diese sei in einem miserablen Zustand.

Menschen mit Behinderung selbst beklagen die fehlende Barrierefreiheit, zumindest müsse man lange um sie kämpfen. So erzählte Maxim Nikonow, ein Rollstuhlfahrer aus Sankt Petersburg und Mitglied der Gesellschaft „Im Rollstuhl ohne Barrieren“, in einem Gespräch mit RBTH, die Rampe an seinem Treppenaufgang, über die er mit seinem Rollstuhl in seine Wohnung gelange, habe seine Familie gebaut. Auf eigene Rechnung.

In Sankt Petersburg habe sich vieles zum Besseren gewandelt, räumt Nikonow ein. Die meisten Geschäfte in seinem Bezirk etwa hätten nach Protesten Rampen an ihren Eingängen angebracht. Viele Probleme aber seien noch ungelöst. Die Metro zum Beispiel sei nicht barrierefrei. Zwar gebe es eine Vorrichtung, um die Rolltreppe nutzen zu können, sie sei aber bei Weitem nicht für alle Rollstühle geeignet.

Während in den großen Städten die Infrastruktur für Menschen mit Behinderung relativ entwickelt ist, haben ländliche Gebiete in dieser Hinsicht noch einen großen Nachholbedarf. „Ein mehr oder weniger komfortables Leben ist für Behinderte nur in den großen Städten möglich“, sagt die Rollstuhlfahrerin Jelena aus der Kleinstadt Kisseljowsk, 3 076 Kilometer östlich von Moskau. Bei ihrer Flugreise nach Moskau stellte sich heraus, dass es am Flughafen keinen Rollstuhllift gibt. Man musste sie auf dem Arm tragen – eine erniedrigende Prozedur für einen erwachsenen Menschen.

Eine Teilnehmerin des Wettbewerbs „Schönheit ohne Grenzen“ für Frauen im Rollstuhl in Wladiwostok erhält Hilfe.  / ReutersEine Teilnehmerin des Wettbewerbs „Schönheit ohne Grenzen“ für Frauen im Rollstuhl in Wladiwostok erhält Hilfe. / Reuters

Leben in der Gesellschaft

Doch die Misere behinderter Menschen in Russland beschränkt sich nicht auf Probleme mit der Infrastruktur. Immer wieder sind sie Intoleranz und Demütigungen durch ihre Mitmenschen ausgesetzt. Zuletzt sorgten Anfang März bei dem Wettbewerb „Minuten des Ruhms“ zwei Richter für einen Skandal: Sie missbilligten die Darbietung des einbeinigen Tänzers Jewgeni Smirnow als unfair gegenüber den anderen Teilnehmern.

Ein anderer Skandal ereignete sich am Flughafen Tscheboksary, 600 Kilometer östlich von Moskau, als der Paralympics-Sportler Samir Schkachow es ablehnte, sich wegen eines fehlenden Fahrstuhls von Flughafenmitarbeitern auf den Armen tragen zu lassen. „Ich bin kein Gepäckstück, ich bin ein lebender Mensch!“, empörte sich Schkachow und kroch auf seinen Armen die Gangway hinab.

In Russland führen Behinderte oft ein von der Gesellschaft abgeschiedenes Leben in ihren vier Wänden. Die „normalen“ Menschen sind häufig unsicher, wie sie sich ihnen gegenüber verhalten sollen, meint Vera Sacharowa, Gründerin und Leiterin des Projekts für virtuelle Hilfe „Anderen helfen heißt Selbsthilfe“. „Menschen mit Beeinträchtigungen wären froh, wenn sie aktiver am Leben teilnehmen könnten, wenn sie arbeiten oder ausgehen könnten. Aber angesichts der bestehenden Probleme (mit der Infrastruktur) ist nur eine Minderheit dazu in der Lage“, beklagt Sacharowa in einem Gespräch mit RBTH. Nach offiziellen Statistiken arbeitet von 3,7 Millionen erwerbsfähigen Behinderten in Russland heute nur ein Viertel.

Wege in eine andere Zukunft

Dmitri Polikanow, der Präsident der gemeinnützigen Stiftung für Menschen mit Seh- und Hörbehinderung „So-Jedinenije“ („Verbindung“) ist sicher, dass die Probleme von Behinderten nur mit einem systematischen Herangehen zu lösen sind. „Es reicht nicht, öffentliche Orte mit Rampen oder Toiletten für Menschen mit Behinderung auszustatten“, betont Polikanow. „Es muss der ganze Weg durchdacht werden, um zu gewährleisten, dass ein Rollstuhlfahrer oder ein Sehbehinderter sein Haus verlassen und an diese Annehmlichkeiten gelangen kann.“

Die Gesellschaft müsse außerdem toleranter werden. „Solange die Menschen nicht lernen, mit behinderten Menschen richtig zu kommunizieren, wird alles beim Alten bleiben“, ist Polikanow überzeugt. In dieser Hinsicht seien schon gewisse Fortschritte zu verzeichnen. Seit 2012 etwa werde an den Schulen „anerkennendes Verhalten“ unterrichtet. Den Kindern würde erklärt, wie man sich gegenüber Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu benehmen habe.

Menschen mit Behinderungen werden in Russland allmählich aktiver, und das ist gut, glaubt der Experte. „Heute sieht man auf den Straßen häufiger einen Rollstuhlfahrer oder einen Menschen mit Blindenstock als noch vor fünf Jahren“, sagt Polikanow. „Das hilft Menschen ohne Behinderung, den korrekten Umgang zu lernen.“

Der Rollstuhlfahrer Maxim Nikonow sieht Bewegung in der russischen Gesellschaft, die Menschen störten sich seltener an Behinderten und seien hilfsbereiter. „Allerdings reise ich häufig nach Europa. Und bis zu europäischen Verhältnissen haben wir noch einen langen Weg vor uns“, stellt Nikonow fest.

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