Filme in Russland: Die Angst vor der Schere

Eine Spielszene aus dem Film "Leviathan" von Andrej Swjaginzew. Foto: Kinopoisk

Eine Spielszene aus dem Film "Leviathan" von Andrej Swjaginzew. Foto: Kinopoisk

Die Sowjetzeiten sind längst vergangen, doch nun holt ein dunkler Schatten die Gegenwart wieder ein: Das neue Gesetz gegen den Gebrauch von Schimpfwörtern ruft die Zensur wieder auf den Plan. „Leviathan“ des bekannten russischen Regisseurs Andrej Swjaginzew, der bald in die Kinos kommt, ist der erste Film, der zwei grundsätzlich verschiedene Fassungen hat.

Seit dem 1. Juli dieses Jahres gelten in Russland neue, schärfere Regeln für die Lizenzvergabe von Kinofilmen. Mithilfe eines neuen Gesetzes, das Schimpfwörter in Medien, Filmen, im Theater und der Kunst verbietet, sollen zuständige Beamten entscheiden, welcher Film für die Ausstrahlung vor einem Publikum geeignet ist und welcher nicht. Der Staat ist damit berechtigt, eine Zensur über Filme zu verhängen, in denen Flüche oder Schimpfwörter vorkommen.

Die Auswirkungen werden sehr bald zu spüren sein. Im November kommt „Leviathan", der neue Film des bekannten russischen Regisseurs Andrej Swjaginzew ins Kino. Die Kino-Fassung wird sich jedoch grundsätzlich vom Director's Cut unterscheiden: Denn für die russische Leinwand wurde der Film nachsynchronisiert und einer dem neuen Gesetz entsprechenden Zensur unterworfen. Das neue Gesetz unterscheidet sich zwar unterscheidet von der Zensur der Sowjetzeit, dennoch ziehen viele Regisseure und Filmexperten bereits Parallelen zur düsteren Film-Vergangenheit.

 

Zensierte Religiosität

Andrej Tarkowskij, ein bekannter sowjetischer Regisseur, konnte während seiner gesamten Karriere lediglich fünf Filme drehen. Wenn man bedenkt, dass es im Durchschnitt etwa ein Jahr gedauert hat, einen Film zu produzieren, dann war Tarkowskij eigenen Angaben nach ganze 16 Jahre lang arbeitslos. So wurde sein erster Film „Iwans Kindheit" aus dem Jahre 1962, der den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig gewann, in der UdSSR als ein Kinder- und Jugendfilm beworben. Der Film, der sich um das Schicksal eines zwölfjährigen Waisen im Zweiten Weltkrieg dreht, wurde lediglich während der Morgenvorstellungen gezeigt. Sowjetischen Zensoren passte die Tatsache nicht, dass der Film hinter dem Eisernen Vorhang als pazifistisch aufgefasst wurde, was angesichts der Kubakriese der sowjetischen Außenpolitik widersprach.

Weil die Filme von Tarkowskij stets als Meisterwerke galten, wurde auch jeder einzelne einer strengen Zensur unterzogen. Im Film „Andrej Rubljow" aus dem Jahr 1966 störten sich die Zensoren zum Beispiel an den zahlreichen religiösen Elementen, weswegen der Film auf 25 Minuten heruntergekürzt wurde. Zudem erhielt der Regisseur nach Erscheinen des Films sechs Jahre Berufsverbot. Auch der Verleih weiterer Meisterwerke wie „Der Spiegel" (1975) oder „Stalker" (1979) wurde aufgrund ihrer komplexen Sprache stark bearbeitet. Die Presse äußerte sich zu den beiden Filmen entweder nur negativ oder sie wurde zur Gänze mundtot gemacht.

Lediglich sein Film „Solaris" (1972) erntete ein wenig Lob von den strengen sowjetischen Kritikern. Den Zensoren gefiel jedoch auch hier nicht, wie das Thema Gott behandelt wurde. Er durfte erst nach mehr als 40 „Korrekturen" auf den sowjetischen Leinwänden erscheinen.

 

Zensur in mehreren Etappen

Andrej Smirnow, Regisseur des sowjetischen Kultfilms „Belorusskij woksal" (zu Deutsch: „Weißrussischer Bahnhof") aus dem Jahre 1970, der von den Veteranen des Zweiten Weltkriegs erzählt, erinnert sich noch gut an die zu dieser Zeit herrschende Zensur: „Damals gab es keine klar definierten Regeln. Alles hing von einzelnen Beamten ab, die entweder Ja oder einfach Nein zu einem Film sagen konnten." Dabei sei das Goskino, die zentrale

Behörde für Filmwesen in der UdSSR, bei der man alle fertigen Filme abgeben musste, nur die letzte Instanz gewesen. Denn die Filmzensur sei bereits ab dem ersten Drehtag in Kraft getreten, erzählt Smirnow. „Im Studio Mosfilm wurden die Drehbücher von speziellen Redakteuren aussortiert. Danach wurden sie von einem eigenen Komitee, einem Team von Filmexperten, Drehbuchautoren und Regisseuren besprochen. Dabei wurden die Drehbücher auch von der Parteileitung, das heißt der örtlichen Behörde der Kommunistischen Partei, begutachtet – ohne sie ging nichts. Und natürlich wurden die Filme auch während der Dreharbeiten strengstens kontrolliert", erinnert sich der Regisseur.

Eine andere Meinung vertritt hingegen der Filmexperte Viktor Matisen: „Ungeachtet dessen, dass es keine bestimmten Regeln gab, konnte man in jedem Fall leicht herausfinden, warum die Zensoren mit einem Film nicht zufrieden waren. Denn angenommen, man hatte eine Frau in der Hauptrolle, die alle sowjetischen Frauen verkörpern musste, und dabei beispielsweise ihrem Mann im Film untreu war, dann fragten die Zensoren auf jeden Fall: Moment! Was wollen Sie als Regisseur damit sagen? Dass jede sowjetische Frau untreu ist?"

Als der Film „Die Kraniche ziehen" von Michail Kalatosow aus dem Jahre 1957 auf den Filmfestspielen in Cannes einen Preis gewann, gratulierte dem Regisseur in der Sowjetunion niemand. Die Nachricht über den großen Erfolg wurde lediglich in einem sehr kurzen Kommentar in der sowjetischen Zeitung „Istwestija" verkündet – der Beitrag enthielt weder Bild noch Namen des Regisseurs. Es hieß, dass dem damaligen sowjetischen Staatsoberhaupt Nikita Chruschtschow die Handlung des Films nicht gefallen habe – insbesondere jener Teil nicht, in dem die weibliche Hauptfigur ihren Geliebten, der in den Krieg ziehen muss, betrügt.

 

Ein großer Filmfriedhof

„Man kann sagen, dass das Filmwesen in der Sowjetunion dem gnadenlosen Skalpell der Zensur unterlag. Doch dabei kam nicht nur das Skalpell zum Einsatz, sondern auch ein Beil", sagt der Filmexperte Walerij Fomin. „Die sowjetische Zensur hinterließ nicht nur einen gewaltigen Filmfriedhof, sondern auch zahlreiche nicht realisierte Projekte. Es reichte

dabei nicht nur, etwas zu verbieten oder aus einem Film etwas herauszuschneiden, nein, es musste gleich bestraft werden. Die Zensur nahm hinsichtlich der öffentlichen Bestrafung monströse Ausmaße an", kritisiert der Filmexperte.

Als Beispiel für die unbarmherzige Willkür der sowjetischen Filmzensur kann der Regisseur Sergej Eisenstein gesehen werden, der 1935 seinen Film „Die Beshin-Wiese" drehen wollte. Der Film sollte von dem Pionier Pawlik Morosow handeln, der gegen seinen Vater, einem Kulaken und somit Feind der Sowjetunion, Anzeige erstattet, weil er die Ernte einer Dorfkolchose sabotieren wollte. Vom Regisseur erwartete man, dass der Film so gedreht wird, wie es von der Kommunistischen Partei angeordnet worden war. Jedoch beschritt Eisenstein einen anderen Weg: Er war weder darum bemüht, politisch zu bewerten, noch hielt er an der sowjetischen Rhetorik fest. Also wurde sein Film abgesetzt. Das Material ging mit der Zeit verloren und man initiierte eine Hetzkampagne gegen den Künstler, die den Regisseur bis an den Rand des Suizids trieb.

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