Prilepin denkt, dass die Deutschen sehr empfindlich auf extremistische und militaristische Themen reagieren. Foto: Artem Geodakian/TASS
Sachar Prilepin ist Schriftsteller, Redakteur und Mitglied der in Russland verbotenen Nationalbolschewistischen Partei. Im Tschetschenien-Krieg kämpfte der heute 39-Jährige für die Antiterrortruppe Omon. Als Autor debütierte er 2004 mit seinem Roman „Patologii“. Mittlerweile hat Prilepin über ein Dutzend Bücher veröffentlicht und wurde vielfach mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet. Sein jüngster Roman „Obitjel“, den er dem Gulag „Solowezker-Lager zur besonderen Verwendung“ widmete, wurde erst vor Kurzem in Russland zum „Buch des Jahres“ gekürt und mit dem angesehenen Buchpreis „Bolschaja Kniga“ gewürdigt.
RBTH: Ihre Bücher werden in viele Sprachen übersetzt, Sie sind dennoch ein „sehr russischer“ Schriftsteller. Einem Ausländer könnte es Mühe bereiten, Ihr Werk zu verstehen…
Prilepin: Das ist Teil dieses Mythos, einem im Übrigen sehr russischen, dass wir mit unseren kleinlichen Problemen niemanden auf der Welt interessieren. Eine Literatur über die Menschheit im Allgemeinen gibt es nicht, abgesehen vielleicht von Büchern über Humanoide, die noch niemand gesehen hat. Dostojewski und Tolstoi – das sind unsere persönlichen, russischen Qualen. Vielleicht ist das Verhältnis zu Dostojewski im Ausland daher leidenschaftlicher als bei uns. Er deckt etwas über unser Wesen auf, und im Ausland kann man über die Russen nach Maßgabe von Dostojewskis Helden urteilen.
Ins Deutsche wurde bisher nur einer Ihrer Romane übersetzt – „Sankya“. Das war im Jahr 2012. Sind Sie wegen zukünftiger Übersetzungen im Gespräch mit deutschen Verlagen?
Ja, wir sind kontinuierlich im Gespräch. Aber die Deutschen sind mir
gegenüber besonders kritisch. Deutschland ist ein Land, das alle europäischen Sünden auf sich genommen zu haben scheint, und daher reagieren die Deutschen sehr empfindlich auf extremistische und militaristische Themen. Sie haben die Reaktion auf „Sankya“ genau beobachtet.
Ich bin durch ganz Deutschland gereist und habe in 15 Städten aus diesem Roman gelesen. Die Deutschen sind ein sehr aufmerksames und besonnenes Publikum, sie reagieren nicht so impulsiv wie zum Beispiel die Franzosen und die Italiener. In einer deutschen Stadt wurde ein Bühnenstück nach der Vorlage von „Sankya“ inszeniert, es war ein großer Erfolg. Nach eineinhalb Stunden wirklicher Action auf der Bühne trafen wir mit Lesern zusammen. Die Deutschen haben mein Werk begriffen, aber sie sind zurückhaltend.
Der Schriftsteller Prilepin und der politische Prilepin – sind das verschiedene Persönlichkeiten?
Das gehört zusammen. Aber der Schriftsteller Prilepin gehört keiner Partei an und versucht nicht, die Leser von seinen Standpunkten zu überzeugen. Im Gegenteil, ich leugne sie, ich verstecke mich vor ihnen.
Diese beiden Hypostasen – Mensch und Autor – sind eigentlich nicht zu trennen. Nehmen wir Lew Tolstoi – er litt sehr an seinen religiösen und mit seiner Männerrolle zusammenhängenden Widersprüchen, an dem Bösen, der Gewalt und der Ausschweifung. Seine Bücher sind dabei teilweise durchaus weltbejahend, das betrifft auch „Krieg und Frieden“.
Auf der Frankfurter Buchmesse haben Sie sich an einem Runden Tisch zum Thema Ukraine beteiligt. Das Publikum hat teilweise heftig auf Ihre Aussagen reagiert, Sie wurden aber auch von vielen enthusiastisch begrüßt. Welche Reaktion hatten Sie erwartet?
Nach Frankfurt war ich noch in Prag und Bukarest, ich erlebte überall stürmische Reaktionen. Im Westen ist ein Informationsvakuum entstanden. Man liest dort keine russischen Zeitungen und verschafft sich keine anderen Informationen als die, die von deren Medien geliefert werden. In Russland lesen die Menschen in verschiedenen Sprachen, es fällt uns daher leichter, die Lage in der Welt einzuschätzen, und das obwohl unser Fernsehen
recht propagandistisch und antiwestlich ausgerichtet ist.
Ich versuche nicht, dem ausländischen Publikum zu gefallen, ich sage das, was ich für nötig halte. Das sind Dinge, die für uns in Russland offensichtlich sind, in Europa aber für große Überraschung sorgen. Als ich in Großbritannien auftrat, sagte ich, dass wir uns in der Ukrainefrage so verhalten werden, wie es uns als notwendig erscheint, weil man uns in diese Situation hineingezogen hat und wir gezwungen sind, bestimmte Entscheidungen zu treffen. Die Leute erhoben sich von ihren Stühlen und applaudierten.
In letzter Zeit haben Sie mehrfach den Donbass bereist. Mit welchem Ziel?
Ich hatte die unterschiedlichsten Gründe, dorthin zu fahren. Der wichtigste war sicher, dass ich von Anfang an kontinuierlich humanitäre Hilfsgüter dorthin liefere, an öffentliche Stellen, an Krankenhäuser und Schulen und direkt an die Menschen dort, auch an die Zivilbevölkerung,
Ich bin auch früher oft in die Ukraine gereist. Bereits in den 2000er-Jahren waren die ukrainischen Intellektuellen sehr antirussisch eingestellt und sahen ihr Land kurz vor einem Bürgerkrieg. Ich war einer der Ersten, die den Maidan konsequent kritisierten, ich nahm die dort herrschende russophobe Stimmung sehr deutlich wahr. Aber schon damals stand ich in der Ukraine mit „Obitjel“ auf Platz zwei der Bestsellerliste. Ein Jahr später hätte man mich in der Ukraine am liebsten zerfleischt. Aber auch heute noch bin ich einer der am meisten verkauften Schriftsteller in der Ukraine. Natürlich besagen die Verkaufszahlen meiner Bücher nicht alles, aber ich bin sicher, dass auch im Westen der Ukraine vielen klar ist, dass sie sich die Lage selber eingebrockt haben.
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