Polina Scherebzowa: „Meine Heimat gibt es nicht mehr“

Polina Scherebzowa: „Im Krieg ging die Menschlichkeit verloren“ Foto: Reuters

Polina Scherebzowa: „Im Krieg ging die Menschlichkeit verloren“ Foto: Reuters

Polina Scherebzowa erlebte die Schrecken des Tschetschenien-Krieges als Kind und verarbeitete ihre Erlebnisse in „Polinas Tagebuch“, das 2011 als Buch in Russland erschienen ist. Heute lebt sie im politischen Exil in Finnland. Zum Erscheinen der deutschen Ausgabe veröffentlicht RBTH Auszüge eines Interview, das Scherebzowa dem „Russian Journal“ gegeben hat.

„Russian Journal": „Polinas Tagebuch" steht in einer Reihe mit mehreren Büchern moderner russischsprachiger Autoren, in denen der Krieg in Tschetschenien aus der Perspektive einfacher Menschen beschrieben wird. Niemand schien damals eine Vorahnung vom Krieg gehabt zu haben. Ist die heutige gegenseitige Abneigung von Russen und Tschetschenen eine Folge der Politik?

Polina Scherebzowa: In meiner Weltanschauung gibt es keine Zu- oder Abneigung zwischen Russen und Tschetschenen. Es gibt gewisse Erfahrungen, die gemacht worden sind und die von den Menschen, die unter die Mühlsteine des Kriegs gekommen sind, überlebt werden müssen. Meine Erfahrung ermöglichte es mir, das, was ich in meinem Umfeld erlebt habe, unvoreingenommen aufschreiben zu können.

In unserer Familie gab es niemanden, der eine bestimmte Ethnie einer anderen vorgezogen hätte. Dasselbe galt auch für die Religionen. Es gab keine Vorlieben, kein Beharren auf einer bestimmten Idee. Einen Ehrenplatz in unserem Haus hatten drei Bücher: die Tora, die Bibel und der Koran, als Zeichen des Respekts gegenüber unseren Ahnen, die jeweils unterschiedliche Religionen ausübten.

Was die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den beiden Ethnien betrifft, so kann ich sagen, dass mir etwas Derartiges bis zum Ausbruch des Ersten Tschetschenien-Krieges unbekannt war. Die Menschen lebten

miteinander, feierten ihre Feste zusammen, teilten die Freuden und das Leid.

Warum existiert dann heute diese gegenseitige Abneigung zwischen Russen und Tschetschenen?

Der erste der Kriege war noch von einem Funken Menschlichkeit durchzogen. Die russischen Soldaten und die Aufständischen, die die Stadt verteidigten, tauschten oft Gefangene aus, halfen einander, waren freundlich zueinander. Während der Kämpfe warfen sie einander Zigaretten und Schokoladentafeln zu und banden sogar Steine daran, damit sie weiter flogen. Die Kommandeure schimpften vergeblich – die meisten wollten keinen Krieg führen.

Doch langsam begannen beide Völker, als sie immer tiefer in den Sog des Krieges gerieten, ihr menschliches Antlitz zu verlieren. Die Verluste auf beiden Seiten mehrten sich. Kinder verloren ihre Eltern, jemand verlor einen Sohn im Krieg, der Bruder eines anderen starb und schon zog auch der jüngere Bruder in den Krieg ...

 

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