Der heutige Universitätsring mit dem Burgtheater um 1900, im Vordergrund der Rathauspark. Foto: Wikipedia.org
Wenn Sie der marmornen Pracht der Secession schon überdrüssig sind und die vergoldeten Lorbeerblätter vor Ihrem geistigen Auge von der glänzenden Kuppel abfallen wie in einem Jugendstil-Herbst, wenn die wunderbaren fahlen Figuren in Klimts Beethovenfries in Ihnen eine Melancholie wecken, die in dumpfe Sorge wegen Ihres falsch geparkten Wagens ausartet, wenn der Stephansplatz, überlaufen von chinesischen und amerikanischen Touristen, Sie plötzlich an die Fußballweltmeisterschaft und an das verlorene Spiel Ihres Favoriten erinnert und die aus dem Stephansdom strömenden japanischen Touristen an die Folgen des verheerenden Tsunami und an die noch nicht beglichene Steuerrechnung vom April, wenn Ihnen im Freud-Museum unvermutet schwindlig wird und sich mit psychoanalytischer Feinfühligkeit unsichtbare Nadeln bis in die Spitzen der auf einmal eiskalten Finger bohren, wenn das Wort „Wienerschnitzel" aus dem Munde des betagten Kellners Sie vom Thonet-Stuhl auffahren lässt und Sie aus dem legendären Kaffeehaus mit den marmorierten Säulen und der Puppe des schnurrbärtigen Stammgastes treibt, wenn die Blumenbeete in Schönbrunn Sie schmerzhaft an den Zahnarzttermin erinnern, den Sie schon dreimal verschobenen haben, und die Länge des Karl-Marx-Hofes an die se-e-e-h-h-h-hr alte Schuld bei einem guten alten Freund, wenn der Bart des Kutschers zusammen mit der bittersüßen Walzermelodie aus dem iPhone eines russischen Touristen in Ihnen die Erinnerung an das kommunistische Gespenst weckt, das in Europa umgehen soll, aber dem Sie in Ihrem ganzen Leben noch nie begegnet sind, wenn Ihnen ganz Wien vorkommt wie ein großer Hybrid aus Konditorei und Museum mit einer unendlichen Armee höflich-kühler Kellnerinnen – lassen Sie das alles hinter sich und gehen Sie auf die Ringstraße.
Ich habe es auch so gemacht, als ich eine Zeit lang in Wien wohnte – einer Stadt, nach außen so schön, dass einem diese imperiale Schönheit leicht Überdruss und Schwindel bereiten kann. Vom allzu Schönen sollte es nicht zu viel geben, Wien ist aber wie eine Festtagstorte mit einem Mozart aus Schokolade obendrauf. Man sollte sich auch nicht jeden Tag mit Torte vollstopfen!
Die Ringstraße ist die demokratischste Straße Wiens. Dieser Boulevard ist jederzeit für alle Fußgänger weit offen, für Touristen genauso wie für die Wiener. Er verlangt nicht, dass man ihm mit Pietät begegnet, erwartet nicht, dass man ehrfürchtig mit dem Stadtplan hantiert, legt keinen Wert aufs Elitäre, streut einem keinen imperialen Staub in die Augen. Das Imperiale bleibt an den Rändern des Boulevards. Auf ihm verkehren Straßenbahnen, fahren Radfahrer. Hier wachsen Bäume, liegen Schnapsfläschchen und Zigarettenstummel. Die Ringstraße gibt Ihnen keine Gelegenheit sich zu verirren, sich zu verlieren. Sie zieht sich lange, breit und endlos dahin, und obwohl sie „Ring" genannt wird, ist sie eigentlich keiner, weil sie vom Kai abgeschnitten wird.
Darin liegt auch etwas Demokratisches, das Unvollendete der Kreisform, das Fehlen der abgeschlossenen Strenge: Der Kreis wird vom Fluss aufgesprengt. Sind Sie den „Ring" entlanggegangen, biegen Sie nun am Kai
ab. Kaufen Sie am Kiosk ein Eis, gehen Sie am Ufer des rasch dahinströmenden schmalen Kanals weiter und erfreuen Sie sich am Anblick des getrübten Wassers. Hier am Wasser skaten Studenten, gehen Damen mit ihren Hunden spazieren, liegen Sandler in ihrem Urin. Haben Sie vom Fluss genug, biegen Sie wieder rechts ab, gehen durch die Gassen und kommen beim wuchtigen Gebäude des MAK, des Museums für Angewandte Kunst, heraus. Hier setzt sich diese Straße – die Ringstraße – erneut fort. Und wie auf einem Fluss kann man auf ihr ziellos im Boot seines Schicksals, das einen in diese prächtige Stadt verschlagen hat, dahingleiten. Sich treiben lassen, rudern, rudern, die Passanten nicht beachten und auch nicht die Sehenswürdigkeiten zu beiden Seiten. Diese werden Sie nicht zum Halten nötigen, nicht verlangen anzulegen, werden sich nicht aufdrängen mit ihrer Geschichte, ihren Daten und Personen. Sie erlauben sich nur vorbeizuziehen. Wenn Sie aber wollen, treten Sie näher, legen Sie Ihre Handfläche auf ihren Marmor oder Granit und fühlen Sie das bedeutungsschwangere Schweigen des imperialen Herzens. Ja, das ist die Stille des untergegangenen Reichsgebildes, die glanzvolle Grabesruhe der Habsburger.
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