Geschichte begreifen lernen: Neues Gulag-Museum in Moskau eröffnet

Das Museum zur Geschichte des Gulags will seine Besucher zum Reflektieren anregen.

Das Museum zur Geschichte des Gulags will seine Besucher zum Reflektieren anregen.

Foto: Sergej Melichow / Museum zur Geschichte des Gulags
Die politischen Repressionen Stalins waren beispiellos. Für eine allmähliche Aufklärung und Bewusstwerdung des Terrors in seinem gewaltigen Ausmaß bedarf es noch mehrerer Jahrzehnte. Ein neues Museum in Moskau will diese tragischen Seiten der russischen Geschichte in einer interaktiven Ausstellung erfahrbar machen.

„Noch viele Jahre nach dem Lager hielt Solschenizyn an einem persönlichen Ritual fest: Einen Tag im Jahr beschränkte er seine Mahlzeiten auf heißes Wasser und 200 Gramm Schwarzbrot. Er wollte nicht vergessen, wie es damals im Lager war“, erzählte Natalja Solschenizyna, die Ehefrau des 2008 verstorbenen Schriftstellers, während der feierlichen Eröffnung des neuen Museumsgebäudes zur Geschichte des Gulags.

Die Abkürzung Gulag, die man bald auf der ganzen Welt kannte, steht für die einst geheim gehaltene „Hauptverwaltung der Erziehungs- und Arbeitslager“. Alexander Solschenizyn hatte das System, den Alltag und die Verbrechen solcher Lager detailliert in seinem Hauptwerk „Das Archipel Gulag“ beschrieben.

Eine neue Qualität des Gedenkens

500 Einrichtungen dieser Art waren auf der Karte der UdSSR entlang den Staatsgrenzen verzeichnet. Millionen verfolgter Menschen teilten das Schicksal, dort Jahre ihres Lebens verbringen zu müssen. Die Mehrheit von ihnen waren nach Paragraf 58 des sowjetischen Strafgesetzbuchs verurteilt worden, also wegen vermeintlicher politischer Straftaten – Unterhöhlung und Schwächung der Staatsmacht, Vaterlandsverrat, Spionage. 

Einer von ihnen war der Historiker Anton Antonow-Owsejenko. Er hatte als Sohn eines „Vaterlandsverräters“ in Gefängnissen und Lagern eingesessen. Dank seiner Initiative wurde im Jahr 2001 in Moskau das erste Gulag-Museum gegründet. Zu dieser Zeit gab es auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR bereits einige Einrichtungen, die sich dem Gedenken an die Repressionen verschrieben hatten. Der politische Terror als systemisches und allgegenwärtiges Phänomen war jedoch noch nicht ins öffentliche Bewusstsein vorgedrungen. Das erste Gulag-Museum im Stadtzentrum Moskaus, in der Petrowka-Straße, verfolgte eben dieses Ziel. Auch wenn es an Räumlichkeiten, Exponaten und finanziellen Mitteln deutlich mangelte. 

Foto: Juri Palmin / Museum zur Geschichte des Gulags

Jetzt ist das Museum in ein dreigeschossiges Wohnhaus vom Beginn des 20. Jahrhunderts umgezogen, es liegt im Stadtzentrum, in der ersten Samotetschni pereulok. „Mit dem Umzug in das neue Gebäude haben wir neunmal so viel Platz für unsere Ausstellungen und die Lagerung von Exponaten, wir können auch Forschungsprojekte von einer völlig neuen Qualität realisieren“, freut sich Museumsdirektor Roman Romanow. Er ergänzt: „Es gibt bereits ein Zentrum für soziales und freiwilliges Engagement und ein Studio für visuelle Anthropologie, bald eröffnen ein Buchladen und eine Bibliothek. Im Dezember bekommen wir Audioführer in englischer Sprache.“

Antrieb zur Selbstreflexion

Die erste Ausstellung eröffnete symbolisch am 30. Oktober, dem Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen. Ungeachtet der Thematik hüllt das neue Museum seine Besucher nicht in eine dunkle oder beklemmende Atmosphäre. Selbst die Gefängnistüren mit ihren massiven Riegeln, die, aus ganz Russland herbeigeschafft, in einer Gesamtinstallation gezeigt werden, scheinen eher ein gegenständliches Symbol des Grauens als ein Instrument zur Erzeugung starker Gefühle zu sein. Selbstgemachte Krüge und Löffel, eine Teekanne aus Konservenbüchsen, gesteppte Gesichtsmasken zum Schutz vor zweistelligen Minusgraden auf dem Bau – all diese Artefakte aus dem Lageralltag wirken in den beleuchteten Vitrinen wie antiker Schmuck.

Foto: Sergej Melichow / Museum zur Geschichte des Gulags

Selbst die Videointerviews mit überlebenden Opfern der Repressionen kommen zunächst sehr nüchtern daher – bis man beginnt, ihren Inhalt zu realisieren. In den Ausstellungssälen mangelt es nicht an interaktiven Elementen, die auch Kinder in ihren Bann ziehen können. Beim Betreten des Rundpanoramas mit Fotoinstallationen über die Beisetzung Stalins etwa fühlt man sich schnell wie ein Teilnehmer des Trauerzugs. Diese Art der Darbietung historischen Materials ist also weder deplatziert noch naiv, sondern genau durchdacht und Bestandteil des musealen Konzepts. Dieses folgt seiner eigenen Logik: die Zuschauer nicht an ihre emotionale Belastungsgrenze zu bringen, sondern sie allmählich zum Erkennen, Nachdenken und Bewerten zu bewegen.

„Das heutige Ereignis reicht in ihrer Bedeutung weit über die Grenzen einer Stadt, und sei es der Hauptstadt, hinaus. Sie betrifft das ganze Land“, sagte Natalja Solschenizyna zur Museumseröffnung. „Bald wird es in Moskau ein Denkmal für die Opfer der Repressionen geben. Doch haben wir damit unsere Schuld aus der Vergangenheit beglichen? Oder haben wir schlicht ein höheres Niveau auf dem Flaggschiff eingeführt, ein Beispiel gesetzt, dem das ganze Land folgen sollte?“ Diese Fragen blieben bislang unbeantwortet.

Erinnerungen an den Vater: Briefe aus dem Gulag

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