Polen, Deutsche, Finnen: Minderheiten im Petersburg der Zarenzeit

Die Brauerei des Werks "Bayern" im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.

Die Brauerei des Werks "Bayern" im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.

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Sankt Petersburg war zu Zarenzeiten die glänzende Hauptstadt des Russischen Reichs. Die Stadt an der Newa zog Auswanderer aus ganz Europa an – noch heute sind ihre Spuren sichtbar. Wie Polen, Deutschen und Finnen die Stadt prägten.

Die Polen: Adel und Arbeiter

Dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts so viele Polen nach Sankt Petersburg kamen, lag an der Teilung Polen-Litauens: Die östlichen und die zentralen Gebiete dieser Königlichen Republik wurden damals Russland einverleibt. Polnische Adlige nahmen in der Regentschaft Katharinas II. und darüber hinaus herausragende Stellungen im höfischen Leben ein. Bei den russischen Aristokraten war der Brauch verbreitet, adelige Polinnen zu heiraten. Der Bruder des russischen Zaren Alexander I., Konstantin Romanow, verzichtete gar auf die Thronfolge, um die polnische Fürstin Joanna Grudzińska heiraten zu können.

Polnische Einwanderer, die nicht zum Adel gehörten, verdienten ihren Lebensunterhalt in der damaligen Hauptstadt hauptsächlich als Schneider und Friseure, die Frauen entwarfen modische Hüte oder betrieben Gasthäuser für ihre Landsleute.

Die Frauenklasse des Turnvereins "Polnischer Falke" während einer Übungsstunde 1907 in Sankt Petersburg. /  Das Zentrale Staatliche Archiv für Film- und Fotodokumente Sankt PetersburgDie Frauenklasse des Turnvereins "Polnischer Falke" während einer Übungsstunde 1907 in Sankt Petersburg. / Das Zentrale Staatliche Archiv für Film- und Fotodokumente Sankt Petersburg

Die polnische Gemeinde entstand unter anderem um die Kirche des Heiligen Stanislaus im Petersburger Stadtteil Kolomna. Seit den Reformen Alexanders II. stieg die Zahl polnischer Einwanderer in der Stadt stetig an. Die Hälfte davon waren Bauern. Ende des 19. Jahrhunderts entstanden polnische Arbeitersiedlungen an der Wyborger Seite und in Ligow. Polnische Gasthöfe und Hotels wurden eröffnet, um die Bildungseinrichtungen auf der Wassiljewski-Insel herum richteten polnische Einwanderer möblierte Appartements ein.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Sankt Petersburg 27 katholische Kirchen und Kapellen, deren Gemeinden größtenteils aus Polen bestanden. Ein weiteres Zentrum der polnischen Diaspora war der Turnverein „Polnischer Falke“. Seine Mitglieder waren berühmt für ihre Eleganz und ihr vorbildliches Auftreten, sodass sie häufig in russischen Gymnasien und Kadettenschulen als Gymnastiklehrer eingestellt wurden.

Die Deutschen: Beamte und Handwerker

Die deutsche Gemeinde stellte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine der größten Minderheiten in Sankt Petersburg. Ihre Mitglieder waren zumeist Deutsch-Balten und Auswanderer aus deutschen Fürstentümern. Die Deutschen spielten in nahezu allen Lebensbereichen der damaligen russischen Hauptstadt eine große Rolle.

Rund ein Fünftel aller hochrangigen Beamten waren im 19. Jahrhundert deutscher Abstammung. Einige Deutsche machten sich auch einen hervorragenden Ruf als Arzt. Bis heute tragen ein Krankenhaus, eine medizinische Hochschule und eine Geburtsklinik die Namen von Karl Rauchfuss, Roman Wreden und Dmitry Ott. Und die Poehl-Apotheke auf der Wassiljewski-Insel versorgte bis zu 50 000 Patienten im Jahr, einschließlich des Zarenhofs.

Gegründet im Jahr 1709 ist die Petri-Schule eine der ältesten Bildungseinrichtungen in Russland und die erste Schule Sankt Petersburgs. / Archive photoGegründet im Jahr 1709 ist die Petri-Schule eine der ältesten Bildungseinrichtungen in Russland und die erste Schule Sankt Petersburgs. / Archive photo

Die Deutschen stellten zudem ein Drittel der Petersburger Uhrenmacher sowie je ein Viertel der Juweliere und Bäcker in Sankt Petersburg. Einer Legende nach stand der deutsche Kringel Pate für den russischen Krendel, ein gerolltes Gebäck mit einem Loch in der Mitte. Viele Deutsche waren auch Wurstmacher und Schlösser. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewannen die Deutschen in der Handels- und Handwerkskammer im Osten der Wassiljewski-Insel deutlich an Einfluss.

90 Prozent der Deutschen waren Lutheraner. Die drei deutschen Gemeinden in Sankt Petersburg wurden noch im 18. Jahrhundert gegründet. Zwei von ihnen, die Gemeinde der Heiligen Petrus und Paulus sowie die Gemeinde der Heiligen Anna, gründeten später Schulen: die Petri-Schule und die Annen-Schule. Nach dem Ersten Weltkrieg und den beiden Revolutionen verließen viele Deutsche Russland, andere versuchten sich anzupassen.

Die Finnen: Schornsteinfeger und Saisonarbeiter

Die Finnen bewohnten schon lange vor der Gründung Sankt Petersburgs das dortige Gebiet – sie können als Ureinwohner dieser Gegend gelten. Finnen, die die gleichen Rechte genossen wie die russischen Bauern aus den Petersburger Nachbarschaftsprovinzen, wurden als Tschuchna bezeichnet. Diese Bezeichnung unterschied sie von den eigentlichen Finnen aus Finnland.

Der Turnverein "Polnischer Falke" beim Fechten 1907 in Sankt Petersburg. / ArchivbildDer Turnverein "Polnischer Falke" beim Fechten 1907 in Sankt Petersburg. / Archivbild

Die Tschuchna kamen nach Sankt Petersburg, um ein Handwerk zu erlernen und sich danach in der Stadt niederzulassen. Viele von ihnen lernten bei den Schlossern, Schuhmachern, Schneidern, Uhrmachern und Juwelieren der damaligen russischen Hauptstadt. Ein eigens finnischer Beruf war allerdings der Schornsteinfeger: Die Petersburger Finnen stellten 60 Prozent von ihnen.

Dabei stammten sie alle aus der gleichen Gegend. Mit dem Aufblühen der Industrie und der Gründung der Eisenbahnstrecke zwischen Sankt Petersburg und Wyborg um 1870 gab es eine wahre Flut an finnischen Arbeitern und Eisenbahnern in der Hauptstadt. Sie siedelten größtenteils in der Nähe der Fabriken an der Wyborger Seite und am Finnski-Bahnhof. Noch heute zeugt eine Straße davon: der Finnski Pereulok, die Finnengasse.

Die Tschuchna verdingten sich meist als Saisonarbeiter. Sie transportierten schwere Lasten, fuhren Schnee aus der Stadt oder legten Eisvorräte an. Eine besondere Zunft waren die Wejki, ein Begriff, der aus dem Finnischen stammt und so viel heißt wie: Kumpel, Freund, Geselle. Sie waren Kutscher mit bunt geschmückten Pferden und Schlitten, die die Menschen an Feiertagen durch die Hauptstadt fuhren. Darüber hinaus versorgten die Tschuchna Sankt Petersburg mit allem Lebensnotwendigen: Fisch, Milch, Brennholz, Tonwaren. Und ihre Frauen waren eine unverzichtbare Hilfe in den Haushalten der Stadt, als Putz- und Waschfrauen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Arzamas Academy. 

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