Russlands Vergangenheit neu erzählt

Der Schriftsteller Boris Akunin: Für mich ist die intensive Beschäftigung mit der Geschichte keine Anstrengung, sondern ein Vergnügen. Foto: RIA Novosti

Der Schriftsteller Boris Akunin: Für mich ist die intensive Beschäftigung mit der Geschichte keine Anstrengung, sondern ein Vergnügen. Foto: RIA Novosti

Bekannt geworden ist er als russischer Autor von Kriminalliteratur. Nun hat der Schriftsteller Boris Akunin angekündigt, ein achtbändiges Werk über die Geschichte des russischen Staates schreiben zu wollen. Im Interview erzählt er über dieses enorme Projekt.

Den Schriftsteller Boris Akunin kann man nur beneiden. Er lebt sein Leben so, dass es ihm nie langweilig wird. Als jüngstes Projekt hat er sich vorgenommen, eine Geschichte des russischen Staates in acht Bänden zu verfassen. Fraglos ist das Projekt bereits großen Erwartungen ausgesetzt. Akunins Leser sind überzeugt, dass es eine nützliche Lektüre werden wird, die obendrein spannende Unterhaltung verspricht. In diesem

Zusammenhang erhebt sich die Frage, über welche Fähigkeiten ein Autor verfügen muss, um eine derart komplexe Aufgabe zu bewältigen.

 

Welches Ziel setzen Sie sich bei diesem grandiosen Vorhaben?

Ich möchte zum einen eine ganzheitliche Vorstellung von der Geschichte Russlands vermitteln, ein Bild, das schlüssig ist und nicht durch irgendwelche Theorien vernebelt wird. Und zum anderen will ich möglichst viele Menschen mit meiner Liebe zur Geschichte anstecken. Darüber hinaus habe ich vor, das literarische Genre zu wechseln. Ich möchte anders und über etwas anderes schreiben. Ich denke, das genügt an Zielen.

Was genau werden Sie in Ihrem Projekt untersuchen?

Die Geschichte Russlands und zwar die politische Geschichte des Landes, die Kontinuität der Machtinstitutionen. Andere Lebensbereiche wie Kultur, Wirtschaft oder Religion berühre ich nur insofern, als sie mit der Biografie des Staates in Verbindung stehen.

Werden Sie sich auch mit bereits vorhandenen Konzeptionen auseinandersetzen? Welchen Autoren vertrauen Sie dabei und welchen nicht?

Kurz erwähnen werde ich diese Konzeptionen natürlich, sie aber nicht kritisch aufarbeiten. Gleich zu Beginn der Arbeit habe ich mir gesagt: Auf keinen Fall voreingenommen sein, sämtliche Theorien und Konzeptionen sollen mir gleichermaßen willkommen sein.

Der Grad meines Vertrauens zu diesem oder jenem Verfasser hängt davon ab, ob in seiner Studie ein politischer „Auftrag" erkennbar ist und wie viel polemischer Eifer darin steckt. Je mehr von beidem, desto geringer mein Vertrauen. Ich selbst lege es mit meiner Schreibart nicht auf Diskussionen an, schreibe nicht polemisch. Entdeckungen zu machen und „ein neues Wort zu reden" habe ich ebenfalls nicht vor. Ich denke, für Historiker werden meine Bände eher uninteressant sein. Meine „Geschichte des russischen Staates" soll eine Darstellung allgemein bekannter Fakten und deren Systematisierung werden.

Vertreten Sie dabei eine eigene Anschauung?

Selbstverständlich. Doch sie setzt sich hauptsächlich aus bereits bestehenden Ansichten zusammen. Natürlich werde ich auch meine eigenen Schlussfolgerungen anbieten. Aber die ordne ich in der Regel ganz am Ende jedes Kapitels und des Bandes an, wenn der Leser bereits alle Informationen aufgenommen hat und wir uns auf Augenhöhe befinden. Mancher wird dann vielleicht andere Schlüsse ziehen.

Was soll den Leser veranlassen, gerade Ihrer Version der Geschichte Glauben zu schenken?

Wie ich hoffe, die Offenheit, mit der ich schreibe und unumwunden einräume, dass ich mir bei diesem oder jenem nicht sicher bin oder dass dies oder jenes überhaupt niemand authentisch weiß. Dabei können die Leser ruhig anderer Meinung sein, darauf kommt es nicht so sehr an. Wenn ihr Interesse an der Geschichte geweckt wird, ist das schon gut.

Ich wünsche mir, dass im Rahmen des Projekts zeitgleich mit jedem meiner acht Bände die besten Werke zur Geschichte des jeweiligen Zeitabschnitts erscheinen. Im Idealfall sollten all diese Titel im Laden zusammen im Regal stehen, als Serie mit einem einheitlichen Logo. Der Käufer greift zuerst zu einem historischen Roman, zu unterhaltsamer Abenteuerliteratur, und wenn dadurch sein Interesse für die Epoche geweckt ist, wenn er wissen will, wie alles wirklich war, wird er den Geschichtsband kaufen, und hat er erst einmal richtig Feuer gefangen, danach auch noch andere thematisch einschlägige Werke.

Was gibt Ihnen die Gewissheit, dieses gigantische Projekt meistern zu können?

Die Tatsache, dass ich es nicht als Arbeit betrachte. Für mich ist die intensive Beschäftigung mit der Geschichte keine Anstrengung, sondern ein Vergnügen. Ich vertiefe mich mit größtem Interesse in das Material und sortiere: Hier die Fakten, da die Hypothesen, dort wissenswerte Details und dazu noch meine eigenen Überlegungen. Mich freut der Gedanke, dass ich mir für ungefähr zehn Jahre im Voraus einen wunderbaren Zeitvertreib gesichert habe.

Wir wissen nicht, was in zehn Jahren sein wird. Im Moment läuft aber alles darauf hinaus, dass die Darstellung der russischen Geschichte in den Schulbüchern in Anlehnung an Wladimir Putins Äußerung von der „widerspruchsfreien Geschichte" im Sinne einer „einzig wahren" Geschichtsauffassung korrigiert wird. Kann Geschichte überhaupt widerspruchsfrei sein?

Bei historischen Abhandlungen muss man zwei grundlegende Dinge unterscheiden: Zum einen sind da die allgemein anerkannten Fakten, also der Schulstoff, wenn man so will. Der sollte nach Möglichkeit so vermittelt werden, dass er für die Schüler interessant ist. Zum anderen gibt es Interpretationen, Untersuchungen, neue Theorien und Hypothesen. Es versteht sich von selbst, dass im erstgenannten Fall die Anforderungen an die Widerspruchsfreiheit weitaus höher sind. Allerdings sollte dabei auf kategorische Wertungen verzichtet werden. Genau das ist die „Geschichte des russischen Staates", die ich schreibe.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Nowaja Gaseta.

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